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des Blutes die Verdauungsvorgänge und damit die Ernährung des Körpers beeinträchtigt.
Die häufigste Beschwerde in dieser Entwicklungszeit der jungen Mädchen ist das nervöse Herzklopfen, das als das unbehagliche Gefühl vermehrter und verstärkter Herzschläge empfunden wird und häufig zu der ganz unbegründeten Angst führt, daß eine wirkliche Erkrankung des Herzens vvrliege. Zuweilen gibt auch die durch mangelhafte Vlutbildung verursachte mangelhafte Ernährung und Leistungsfähigkeit des Herzmuskels den Anlaß zu Herzbeschwerden. Der Puls ist meist nicht kräftig, weich, leicht zu unterdrücken, die Zahl der Pulsschläge etwas erhöht, 72 bis 90 in der Minute, und schnellt rasch bei körperlichen Anstrengungen oder Gemütsaufregungen bedeutend, bis auf 120 und mehr Schläge in der Minute, empor. Am Herzen sind oft Geräusche, auch an den großen Halsvenen, das sogenannte Nonnengeräusch, hörbar, die jedoch keine ernste Bedeutung haben und mit der Heilung der Bleichsucht wieder verschwinden. Nicht selten treten periodisch, ohne jeglichen Anlaß oder nach einem sehr geringfügigen Anlasse mächtige Anfälle von nervösem Herzklopfen mit schrecklichen Angstgefühlen, länger oder kürzer dauernd, des Tages oder auch in der Nacht auf.
Die in dieser Lebensphase sich machtvoll gestaltenden Eingriffe in das Nerven- und Gemütsleben der jungen Mädchen, die vielgestaltigen, mit den Entwicklungsvorgängen in Verbindung stehenden neuen Gedanken, Hoffnungen und Befürchtungen bringen es, namentlich bei einer angeborenen, ererbten Nervenschwäche zuwege, daß mannigfache Störungen des Nervensystems auftreten. Recht häufig füllt in diese Zeit die erste Attacke durch Migräne, quälender Kopfschmerz. Auch nervöse Zuckungen einzelner Muskelgruppen, verschiedene Erscheinungen von Krämpfen, Schmerzanfälle an den Unterleibsorganen kommen vor, dabei Verstimmung, launisches Wesen, reizbare Veränderlichkeit, Neigung zum Weinen, schwere Angstgefühle, Willensschwächungen, moralische Veränderungen, krankhafte Triebe, melancholische Anwandlungen, große Überempfindlichkeit, Störungen des Gesichts- wie Gehörsinnes, auch der Geruchsempfindung, unter besonders ungünstigen Verhältnissen sogar böse Formen von Geisteserkrankung.
Aufgabe des Arztes wie des Erziehers ist es, in erster Linie durch geeignete hygienische Maßnahmen die Widerstandsfähigkeit des Organismus zu erhöhen, für zweckmäßige Ernährung, genügende Bewegung in frischer Luft, angemessene Kleidung, ausreichenden Schlaf Sorge zu tragen, schlechte Lebensgewohnheiten abzustellen, gesellschaftliche und arbeitliche Verhältnisse zu regeln, auf Geist und Gemüt lenksamen Einfluß zu üben, kräftigend und abhärtend zu wirken.
Die den Mädchen in dieser Periode der Reife gebotene Nahrung muß, besonders bei Neigung zur Bleichsucht, einen möglichst hohen Eiweißgehalt bei leichter Verdaulichkeit der Nahrungsmittel besitzen. Im allgemeinen soll die an Eiweiß reiche Fleischkost vorwiegen, doch sollen auch reichlich frische pflanzliche Nahrungsmittel wegen ihres Gehaltes an Nährsalzen geboten und dabei die an Eisenverbindungen reichen Gemüse, wie Spinat, Hafer, Bohnen, Linsen, bevorzugt werden, daneben frisches oder gekochtes Obst in größerer Menge. Die Mahlzeiten biete man in regelmäßigen Zwischenräumen mehrere Male, vier bis fünf, des Tages, nicht zu viel auf einmal. Das Abendessen sei nicht zu reichlich und zu schwer, am besten weiche Eier oder Omelette, Milch. Alkoholhaltige Getränke sind zu meiden oder bei starker Gewöhnung mindestens auf die geringsten Mengen einzuschränken, hier und da zur Anregung des Appetits ein Glas Bier oder ein Gläschen leichten Weines.
Für den Küchenzettel der Bleichsüchtigen empfehle ich besonders Braten von Rindfleisch und Kalbfleisch, auch englisch zubereitete halbrohe Beefsteaks, Schinken, Braten von Hirsch, Reh, Hase, Feldhuhn, Birkhuhn, Kramtsvogel, Haselhuhn, Schneehuhn, Fasan, Huhn, Taube, Truthahn, Kalbsbries, Austern, Spargel, Blumenkohl, Spinat. Zur Abwechslung
der Speisekarte können auch Fische, Schellfisch, Hecht, Forelle, verwendet werden. Bor und nach der Mahlzeit ist Ruhe von halbstündiger Dauer nützlich.
Bei großer Magerkeit blutarmer junger Mädchen muß fetthaltige Kost in ausreichendem Maße, Milch, Rahm, Butter auf die Tafel kommen, auch eine größere Menge von Mehlspeisen, Reis, Kartoffelbrei, Arrowroot, Tapioka, Hafer- und Gerstenmehl zu den Speisen verwendet werden, ferner Mohrrüben, weiße Rüben, süße Früchte, Trauben, eingemachte Früchte, von Getränken außer Milch auch Schokolade und Kakao. Bei der anämischen Form der Fettleibigkeit, die Bleichsüchtige wohlhabender Stände häufig infolge von Vewegungsmangel und Überfütterung bieten, müssen die soeben genannten Fett bildner naturgemäß vom Tische möglichst strenge verbannt werden.
Ausreichende körperliche Bewegung, namentlich in frischer Luft, ist im allgemeinen den jungen Mädchen dringend anzuraten, allerdings mit der notwendigen Berücksichtigung der zulangenden Kräfte und des individuellen Befindens. Bleichsüchtige dürfen die Bewegung nicht übertreiben, müssen sie unter Umständen sogar sehr einschränken. Für schwere Fälle von Bleichsucht hat der berühmte Kliniker Professor Nothnagel Bettruhe von vier- bis sechswöchiger Dauer angeraten. Zuweilen ist eine Liegekur mit vorwiegendem Ruhen in: Freien abwechselnd mit leichter Gymnastik und Körpermassage von Nutzen. Aber in der weitaus größten Zahl der Fälle sollen junge Mädchen viel im Freien gehen und laufen, springen und turnen, um ihre Muskeln zu kräftigen, ihre Körperhaltung zu festigen, den Blutkreislauf zu fördern, die Lungen zu weiten, die Atmung zu vertiefen, die Verdauung anzuregen. Das viele Stubenhocken und Stillsitzen, sei es an der Nähmaschine und am Arbeitstische, oder am Piano und über den Büchern, sowie das träumerische Liegen auf dem Sofa wirken nach allen diesen Richtungen geradezu schädlich. Für junge Mädchen, die in so günstigen Verhältnissen leben, daß sie nicht zu arbeiten brauchen, ist eben deshalb eine bestimmte, körperliche Arbeit als tägliche Aufgabe nötig, und wenn sich dies durchaus „nicht schickt" und die Wirtschaft gar keine Gelegenheit zur Betätigung bietet, nun dann sollen die Damen in Gottes Namen den beliebten modernen Sport trüben, der das Gute hat, zur Bewegung im Freien anzuregen. So ist ein recht geeignetes Bewegungsspiel in frischer Luft das Lawn- Tennis, so sind Schwimmen und Rudern angenehm und nützlich, so ist im Winter Schlittschuhlaufen bei vorsichtiger Wahrung gleichfalls zu empfehlen. Hingegen halte ich das Radfahren für keine passende körperliche Übung in den Jahren der Entwicklungsperiode.
Besondere Sorgfalt ist der Kleidung zuzuwenden, auch wenn dabei die noch immer ungenügend gewürdigte Hygiene mit der allmächtigen Gewalt der herrschenden Mode in Gegensatz und Streit gerät. Ich will nicht in die bekannten ärztlichen Strafpredigten gegen das Mieder verfallen, obgleich sie vollkommen berechtigt und mehr denn je begründet sind. Der Kampf gegen die Schnürbrust wird von den Ärzten schon lange genug geführt, der Erfolg ist aber im allgenreinen noch unzureichend, und zumeist bleibt die Schneiderin Siegerin. Aber ich möchte nur hervorheben, daß nicht nur das Mieder, sondern alle enganliegenden Kleider gerade in den Jahren des Wachstums der Formen, der Entwicklung wichtiger Organe schädigend wirken müssen, indem sie die freie Bewegung des Brustkastens behindern, die normale Lagerung der Unterleibsorgane einzwüngen, das Herz in seiner Arbeit beeinträchtigen, die Eingeweide zusammenpressen, Schnürleber und Wanderniere verursachen, das feste Gerüst, Rückgrat und Becken in seiner Struktur erschüttern. Zu lustige, offene Kleidungsstücke, die zu Erkältungen Anlaß geben, sind ebenso wenig hygienisch wie zu warme, erhitzende Toilettebestandteile, die unangenehme Reizzustände veranlassen. Aus letzterem Grunde sind auch schwere Federbetten für die Schlafstätte der jungen Mädchen ungeeignet. Diese sollen vielmehr auf Matratzen ruhen und sich nur mit einer leichten Decke versehen. Der Schlaf soll allsreichend lange dauern,