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erinnert sich bloß nicht daran. Das ist das Unglück. Unser Kopf ist zu eng. Es geht im Leben zu wenig hinein und geht im Tod gleich wieder hinaus. Und dann fängt man von vorn an. Wenn man das besser weiß -— so wie ich — dann kriegt man Mitleid mit euern ewigen Vorbereitungen zum Leben .... man weiß wahrhaftig nicht, wer dickköpfiger ist von euch beiden — ihr oder der Tod! Erklären Sie mir, liebes, verehrtes Fräulein -— wie heißen Sie doch wohl nur? .
„Ach —- das ist ja ganz gleichgültig!" sagte Thomasine Rasmussen ungeduldig.
Der Weise nickte. „Ja. Aber erklären Sie mir nur, bitte — ich macht es schon lange wissen: warum lebt ihr alle so umständlich? Warum rafft ihr tausend Sachen zusammen, die euch in kurzem doch nicht mehr gehören, und zerbrecht euch den Kopf über tausend Dinge, die ihr doch nicht mehr erlebt? Da ist's doch viel gescheiter, hier ruhig dazusitzen und sich zu denken: Man kann nicht sterben, weil man immer wieder
lebt und man kann in: Leben nichts tun, weil mau immer wieder stirbt! — Finden Sie nicht?"
„Das verstehe ich nicht ganz, Herr Doktor Böhm!"
Er schüttelte erstaunt den Kopf. „Sonderbar!" murmelte er. „Ich bin und bleibe der einzige Mensch, der das begreift ..." Dabei war sein Gesicht heiter. Sein Geheimnis leuchtete darauf. Und er fuhr fort: „Wahrscheinlich ist es
nicht zu begreifen! Ihr könnt es so wenig sehen wie euer eigenes Gesicht. Aber wenn ihr's könntet, würdet ihr sehen, daß alles euer eigenes Gesicht trägt und ihr das aller andern Dinge. . ."
Und dabei verlor sich sein Blick träumerisch in der Unendlichkeit des Raums — Fluß, Tal, Wüste, Berg und Himmel, der in Mittagsglut um die Cheopspyramide dämmerte — und er schloß entschieden: „Ja — das ist zu hoch für
Sie! Wie sollten Sie das begreifen, wo ich schon darüber verrückt geworden bin!"
Er beugte sich vor und zupfte sich vorsichtig, mit spitzen Fingern, eine kleine schwarze Wüstenfliege, die sich, vom Wind getrieben, bis auf die Spitze der Pyramide verirrt hatte, vom Burnus und setzte sie, voll Behutsamkeit, um sie nicht zu verletzen, neben sich in die Sonne.
„Die Mücke da ist immer noch mehr als ihr da unten!" sagte er. „Sie fügt wenigstens niemandem etwas Böses zu — während ihr . . .da kommen sie zu mir heraus -— Ihr Freund, der Blonde — und die alle — zu mir in meine heilige Einsamkeit — nur um mich am Bart zu Zupfen und anzugaffen, mit ihren kalten, gläsernen Fischaugen, als wäre ich der Seiltänzer auf dem Jahrmarkt. Sie schämen sich nicht vor der Sphinx — sie schämen sich nicht einmal vor mir — sie denken: so ist's gut und recht ..."
„Nein! Es war gewiß nicht recht!" versetzte Thomasine Rasmussen gedrückt. „Es war recht einfältig von uns. Verzeihen Sie bitte, Herr Doktor!"
Es war ihr sonderbar, daß sie zu dem rundlichen, sonnengebräunten Araberscheich neben ihr „Herr Doktor" sagte — aber sein Gesicht strahlte auf einmal bei ihren Worten.
„Nicht wahr?" meinte er eifrig und rutschte etwas näher, so daß ihre Ellbogen sich fast berührten. „Das ist doch klar, wie klein und kläglich das alles ist? Wenn ich da hinunterschaue, da wundere ich mich immer, wie ihr das aushaltet, ihr armen Leute! . . . Und vor allen: begreife ich nicht, wie Sie das aushalten..."
„Warum gerade ich?"
„Weil Sie anders sind als die andern!" sprach Kilian Böhm ernst. Es war etwas Feierliches in seiner Stimme. Er schaute dabei hinaus über das Niltal und winkte mit der Hand einem durch die Lust vorüberhuschenden weißen Taubenflug gute Reise nach.
„Das glaube ich nicht!" versetzte Thomasine Rasmussen. „Wieso denken Sie sich, denn das?"
„Das weiß ich doch!" Er hatte sich vertraulich dicht neben ihr an: Boden hingerollt. „Ich habe Sie doch beobachtet. Als gestern dies lange blonde Raubtier mit den weißen Schneidezähnen seinen Hohn mit mir trieb — da war es Ihnen nicht recht . . . Sie haben mit mir ein
bißchen Mitleid gehabt — und später, an der Sphinx,
sind Sie abseits von den andern gegangen, als ich kam, und haben auf mich gehört und nicht auf die bösen Buben an dem photographischen Apparat. Und heute sind Sie ganz allein herausgekommen. Und ich Hab doch nicht lange auf mich warten lassen — nicht wahr? Gelaufen bin ich
von meinen: Zelt durch den Sand, die Pantoffeln in der
Hand ..."
Das sprach er in aller Unschuld aus. daß sie doch nur um seinetwillen wieder hierhergefahren sei — ohne alle Eitelkeit, harmlos wie ein Kind, während seine Hand zerstreut in dem weichen, dunkelen, krausen Vollbart spielte. Und so sehr sie sich über sein zutraulich naives Lächeln ärgerte, mußte sie sich doch zugestehen: etwas war schon daran richtig! Sie hatte das bloß vor sich selbst nicht wahr haben wollen.
Und plötzlich versetzte Kilian Böhm gedämpft und aufgeregt und machte dabei große Augen und faßte ihre Hand: „Eilen Sie! Fliehen Sie, ehe es zu spät ist! . . . Sie leben ja mit Zöllnern und Sündern zusammen, liebes Fräulein! . . . Der Lange, Blonde besonders — oh weh — wahrlich, ich sage Ihnen: der ist für Sie der leibhaftige Antichrist! Der verschlingt Sie mit Haut und Haar. Der verdirbt alles an Ihnen, was gut ist und was noch viel besser sein könnte, wenn man es gepflegt hätte. An Ihnen ist viel gesündigt worden, Fräulein — nun, ich weiß Ihren Namen nicht — und es wird noch viel mehr an Ihnen gesündigt werden, so lange Sie das nicht merken und mit auf der Bank der Spötter sitzen. Das ist keine Gesellschaft für Sie. Es tut mir weh, Sie da zu sehen!"
„Bitte — lassen Sie doch meine Hand endlich los!" sagte Fräulein Rasmussen, und er tat es und fuhr noch eindringlicher fort: „Gewöhnen Sie sich doch die Menschenfurcht ab — daß Sie immer denken, man müsse so sein wie die andern — man muß von Ihnen Weggehen .— — weit — da ist dann ein Feldweg linker Hand — da kommt man zu sich selber — und gewöhnen Sie sich den Menschenhunger ab! Sie nehmen doch nicht mit jeder schlechten Speise vorlieb — warum denn mit jedem schlechten Menschen — jetzt für den Nachmittag, um einen armen Einsiedler aufzustöbern wie mich -— mal fürs ganze Leben. Und dann ist's zu spät!"
Er sprang auf und marschierte mit ungeduldigen Schritten auf der Pyramidenterrasse auf und ab wie eine Schildwache. Der Nordwind bauschte die weiten Falten seines Mantels abenteuerlich auf. Uber den Stufenabsatz lugten die braunen Köpfe der Araber und verschwanden wieder. Endlich machte er vor Thomasine Halt, die am Boden sitzen geblieben war und nun zu ihm aufsah und ihn ernst fragte: „Warum reden Sie nur so zu mir? Gerade zu mir! Sie kennen mich doch gar nicht!"
„Aber ich kenne die andern!" schrie Kilian Böhm empört und warf mit einem Schwung den Mantelzipfel über die Schulter, um sich gegen den Nordwind fester in die weiße Hülle zu wickeln. „Und die andern sind nichts nütz! Unkraut sind sie, in dem Sie nicht gedeihen können! Wahrlich ..." Er trat bis zu der Stufe, riß einen dort kauernden Beduinen an der Schulter in die Höhe und zeigte ihn Thomasine. „Wahrlich — mir ist der armseligste solche Kerl. . ." — er ließ ihn wieder fahren — „. . . mir ist der ärmste Fellache unten am Nil lieber, der im Schweiß seines Angesichts seinen Schlamm tritt und fest an seinen Allah glaubt und abends sein braunes Bübchen schaukelt, mir ist er lieber als diese Leute, die an nichts glauben, die nichts lieben, die allen andern Geschöpfen nur Schmerz zufügen und sie dabei verachten und von ihnen leben — das sind Schmarotzer auf der