„Ich sehe nur.“ 48 Eben diesen Satz könnte man über die „preußische Idee' 1 setzen und hinzufügen: Er sah nur, wohin es allmählich kam, schwankte zwischen Resignation und Hoffnung, wurde schärfer in seiner Kritik, bitter wohl gar, richtete seinen Blick sogar auf den vierten Stand, bekannte sich als „Altpreuße“, hoffte am Ende doch wieder und blieb stark in seinem Reichsempflnden.
Als Fontane sein Fragment konzipierte, trieb die „preußische Idee“ einen neuen Sproß aus dem alten Holz. Zuende gegangen war die Politik des „Neuen Kurses“, in welcher Bismarcks Nachfolger Caprivi u. a. durch die Fortführung sozialer Reformen die innenpolitischen Spannungen zu mildern gesucht hatte. Die Sozialdemokratie, seit 1890 wieder außerhalb staatlicher Verfolgungsmaßnahmen, erfuhr einen stürmischen Aufschwung. Im Spätsommer des Jahres 1894 machte sich Wilhelm II. das wachsende Mißvergnügen der Konservativen wie auch der Großindustriellen am innen- und sozialpolitischen Kurs des Kanzlers zu eigen und leitete jene berüchtigte Wende ein „für Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes“. Er beauftragte Caprivi, ein Gesetz vorzulegen „betr. Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse“. 49 . Anlaß für den als „Umsturzvorlage“ bekannt gewordenen Gesetzentwurf war eine Serie von politischen Attentaten in westlichen Nachbarländern, zuletzt auf den französischen Staatspräsidenten Carnot, der dabei ums Leben kam. Die Täter stammten aus Anarchistenkreisen.
Als Caprivi zögerte, ein Ausnahmegesetz zu schaffen, kostete es ihn das Amt. Sein Nachfolger Hohenlohe-Schillingsfürst brachte die Vorlage im Reichstag ein. Als aber die Zentrumsfraktion auch jeden Angriff auf die christliche Religion, ihre Lehren und Gebräuche unter Strafe gestellt wissen wollte, brach unter Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern ein Proteststurm los, die in den weitläufig formulierten Paragraphen zu Recht die Möglichkeit sahen, jede mißliebige, jede kritische Sicht kirchlicher Belange zu unterbinden. Obgleich Fontane „Demonstrationen und Proteste“ persönlich nicht schätzte, unterschrieb er dennoch spontan die Petition gegen die Umsturzvorlage. Er nannte es „eine Ungeheuerlichkeit ... das Volk Luthers, Lessings und Schillers mit solchem Blödsinn beglücken zu wollen“. 30 Da half „Leisetreterei“ 51 gar nichts mehr, „denn nur deutlichste Sprache, besonders die halb humoristische, halb spöttisch gehaltene, kann noch wirken“. Unter den düsteren Schatten der Umsturzvorlage sowie der sich erneut verschärfenden Auseinandersetzungen der sich rasch ausbildenden modernen Industrienation mit den beharrenden Kräften einer längst nicht mehr paßgerechten überkommenen Gesellschaftsund Sozialordnung dürfte Fontanes „preußische Idee“ ihren Härtegrad erfahren haben. Damals mochte es ihn gedrängt haben, aus der Privatsphäre seines Briefwechsels mit Friedlaender herauszutreten, die Auseinandersetzung mit Preußen auf ein anderes Feld zu verlagern, sie in die Öffentlichkeit zu tragen. Die „preußische Idee“ im Genre des Entwicklungsromans künstlerisch auszugestalten, hätte nun freilich eines Helden bedurft, fähig, einen Erkenntnis- und Reifungsprozeß im echten Sinne zu durchlaufen. Vermochte Fontane Geist und gesellschaftliche Wirk-
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