Heft 
(1985) 40
Seite
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lichkeit der Bourgeoisie in Frau Jenny Treibei noch satirisch zu attak- kieren, ohne denEinzelexemplaren, die gleichwohlentzückend sein können, seinversöhnlich-nachsichtiges Wohlwollen 52 zu versagen, so war ihm dies gegenüber dem Geheimrat Schulze und den Zuständen, die er heraufzuführen half, nicht mehr möglich, jedenfalls nicht nach dem Kunstgesetz, unter welchem Fontane seine literarischen Figuren antreten ließ. In Bitterkeit verharrte er deswegen nicht, wie sehr'auch gerade damals Pessimismus, Niedergeschlagenheit und Krankheit ihn bedrängten. Mühsam genesend, lieh er nicht etwa der widersprüchlichen Anpassungs­akrobatik einer geistigen Schulzenschaft die Stimme, sondern setzte, an seineKinderjahre anknüpfend, seine Lebenserinnerungen mitVon Zwanzig bis Dreißig fort, bekanntlich unter Anwendung einer bewußten Vermeidungstaktik (Wruck), welche das Ganze mit dem Schein versöhn­licher Humanität umgab.

Damit war gleichwohl nicht alles aufgearbeitet, was er an kritisch- politischem Rohmaterial in derpreußischen Idee hatte aufblitzen lassen. Er wollte einen politischen Roman schreiben und schrieb ihn. Es drängte ihn, sich mit Preußen, seinem Adel, seiner Bougeoisie und seinem Bürger­tum auseinanderzusetzen. Erneut zeigte er sich dabeivon milder Obser­vanz, wie sie den alten Stechlin auszeichnet, indem er die zunächst geplanten Likedeeler mit ihrersozialdemokratischen Modernität und zugleich größeren Radikalität wieder beiseite legte, um noch einmal einem Repräsentanten des alten Preußentums Kontur zu verleihen, einem Manne von unbestechlicher Gesinnung, innerer Freiheit und Charakter, so sehr auch und gerade weil dessen Zeit abgelaufen war. Eine Huldigung zum Abschied? Schwanengesang Altpreußens vor dem Abendhimmel? Wunsch­bild und Selbstporträt zugleich? Längst stehen sie bereit, die Gunder­manns und Koselegers. Zwischenstation auf demRitt ins Bebelsche? Daneben darf man freilich die Barbys nicht vergessen, den alten Grafen, Europäer und Weltbürger, und seine Töchter, welche in ihrer humanen Gesinnung und Aufgeschlossenheit wie einVorgriff auf ein neues Jahr­hundert erscheinen . 83 Aber auch Lorenzen und Torgelow weisen, freilich jeder auf seine Weise, in die Zukunft. Was diepreußische Idee am Denken und Handeln Schulzes, an politischen Themen, historischen Ab­läufen im Wechsel der Zeit, an Bedenklichem und Nachdenklichem exemplifiziert, wird im Stechlin auf viele Schultern verteilt und dem Leser nuanciert vorgestellt. Wiederum begegnen Heldentum, echtes wie verord- netes, begegnen ideengeleitetes Handeln, preußische Examina und oppor­tunistische Karrieristen, das Junkertum und deralte Sachsenwalder. Der Sandboden der Markvor allem der moralische und die Pflicht­ethik Kants, Neuzeit und Experiment rücken ebenso ins Blickfeld wie die Problematik des Alten, der Kulturkampf und die Verdauungskraft des preußischen Adlers. Dabei geht es nirgends um Programmatisches, nichts wird dogmatisch festgeschrieben, Rezepturen erwartet man ver­geblich. Mit Fontanes Option für einen politischen Roman im Medium der Kunst fiel zugleich seine Entscheidung gegen die weitere Ausgestaltung derpreußischen Idee, konterkariert als geistige Schulzenschaft. Den politischen Journalisten der Märztage mochte er nicht wiederbeleben. Die

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