Schärfe, die er um 1894 so manchem seiner Briefe beimischte, schlug auch diesmal nicht auf sein künstlerisches Schaffen durch.
Ohne Zweifel enthält das Fragment eine Reihe wesentlicher inhaltlicher, formaler und kompositorischer Ingredienzien Fontaneschen Romanschaffens. Man sieht umrißhaft, wie es hätte gehen sollen. Was sein Protagonist jeweils unter mehr oder minder großen Anpassungsschwierigkeiten für die „preußische Idee“ hält, formt sich ansatzweise zu Situationen, Szenen, Stationen — nicht zuletzt zum Gespräch. Bekannte Fontanesche Kunstmittel wie das Anekdotisdie, die Ansätze zum Gespräch und — als dessen Fortsetzung mit anderen Mitteln — der Brief finden sich. Auch zeichnet sich ab, wie in der begrenzten Individualität des Geheimrats Schulze zugleich das Gesellschaftliche transparent gemacht und Epochentotalität angesprochen wird. Nicht zuletzt finden sich die ironisch zugespitzten Verallgemeinerungen, die so oft von seinen dichterischen Figuren apho- rismenhaft angeboten werden, in der „preußischen Idee“ wieder: „Bismarck hat immer recht“. „In dem kategorischen Imperativ steckt alles Heil.“ Wie sehr bereits der Stechlin hinter der Szene spukte, wird deutlich, wenn es im Fragment heißt: „Ich bin ein Freund der Antithese, das Leben selbst liebt die antithetische Behandlung.“ 54 Im Stechlin liest sich das so: „Er hörte gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Daß sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen. Beinah das Gegenteil. Paradoxen waren seine Passion. Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht.“ 55
Preußen ist für Theodor Fontane zeitlebens ein erregendes Thema geblieben, dessen kritische Aspekte mit den Jahren vorherrschend wurden. Dennoch galt ihm die „preußische Idee“ auch um 1894 nicht als leerer Wahn, wohl aber ihre Verfälschung zur Karikatur. Fontane hat Pflicht bejaht, aber nicht im Sinne eines klaglosen Versinkens im Morast des' Angermünder Schloßgrabens. Ihm war „die Freiheit Nachtigall“; den Kulturkampf allerdings unter ihrem Banner geführt zu sehen, lief ihm zuwider. Gewiß: „Gesinnung entscheidet. Aber, in diesem Falle ,was für' eine 1 !“ 5 ' J Der Mensch kann „ernste, tiefe Ueberzeugungen hegen (die darum noch nicht wahr zu sein brauchen)“, ebensowenig wie Ideen, die „falsch oder richtig“ sein können, aber „weit über alles Selbstische“ hinausgehen. 57 Wo jedoch alles, „zum Theil ohne es zu wissen (und das ist das Allerschlimmste) in Staatspatentheit und Offiziosität“ steckt 58 , wo der „Borussismus“ in seinen unerfreulichen Erscheinungsformen mit seinem „staatlich aufgeklebten Zettel“ 59 dem Menschen seine Lebensstellung zuweist, wo in „unserer Alltags- und Durchschnittstretmühle ... alles nach der Anciennität, nach dem Examen und der Approbation geht“ 90 , da kann zumindest von Freiheit als Teil der „preußischen Idee“ nicht mehr die Rede sein. „Dem Zweckdienlichen alles unterordnen ist überhaupt ein furchtbarer Standpunkt“ 01 , notiert Fontane im August 1893 an August von Heyden, und dies gilt Bismarck. Zu Recht betont Nürnberger, in seinem Fragment „Die preußische Idee“ führe Fontane „seine perennierende Auseinandersetzung mit dem Reichsgründer ein Stück weiter“. 02 Preußens und Deutschlands mächtiger Staatslenker selber hat, ohne es zu wollen, dem Umschmelzungsprozeß der „preußischen Idee“ Vorschub geleistet
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