und es einem Typus vom Schlage des Geheimrats Schulze erleichtert, den „Frack des Herrn von Chergal“ bis zur Unkenntlichkeit auszuflicken. 63 „Er wußte nicht, wohin es ging, darum eben kam er am Weitesten“, so sagte einmal Maximilian Harden über den Kanzler. 64 „Eine Reichsidee als zündendes Leit- und Zukunftsbild seiner Schöpfung besaß Bismarck nie; er und die Führung des Reiches konnten sie daher auch nicht vermitteln“ 63 , stellt L. Gail nüchtern in seiner Bismarck-Biographie fest. Was er erreichte, hat er seiner Zeit „in Widerstand und Entgegenkommen abgetrotzt“. Dabei war er in der konkreten Gestaltung der Verhältnisse „viel weniger frei, viel weniger souverän ... als oft dargestellt, viel öfter zu weitreichenden Kompromissen und zu Opfern ursprünglicher eigener Vorstellungen gezwungen“. 66 Mitunter ging es dabei nicht ohne von „krassesten Widersprüchen getragene Mogeleien“ 67 ab, mit dem Ziel, die Vergangenheit so zurechtzubiegen, wie es den eigenen augenblicklichen Zielen entsprach, so Fontane. Was Wunder, wenn er die Ausführungen des polnischen Schriftstellers Sienkiewicz über Bismarck „einfach nicht zu übertreffen“ nannte. 68 „Es ist ganz gleich, ob Fürst Bismarck wirklich gesagt hat: ,Macht geht vor Recht 1 oder nicht. Die Vox populi, die ihm diese Losung zuschreibt, sieht in ihm die Verkörperung dieses Gedankens, und sie sieht richtig. Denn er war unzweifelhaft die Seele und der Ausdruck seiner gesamten Politik“. 69 Nichts anderes meint die Anekdote vom Einzug der Sieger nach dem 70er Kriege, nach der das kleine Mädchen Bismarck, welcher, auf Moltke verweisend, den ihm dargebotenen Kranz nicht annehmen wollte, zurief: „Aber Sie haben doch angefangen.“ 70 Gewiß verdient Fontanes literarischer Beitrag zur Stiftungslegende des Kaiserreichs „geringfügig“ (Wruck) genannt zu werden, denkt man an seine diesbezügliche Produktion. Diese sollte allerdings nicht zu falschen Schlüssen verleiten. Die Herstellung der deutschen Einheit besaß in seinen Augen einen hohen Stellenwert, und zwar jenseits des damals so lautstarken „patriotischen Blechs“. Mit der „ghibellinischen Idee“ hat er sich auch in seinem Romanwerk auseinandergesetzt. 71 Als das übliche „Sightseeing“ ihm längst kein Interesse mehr abnötigte, zog ihn Goslar, ehedem eines der Zentren der Reichsmacht unter den sächsischen und salischen Kaisern, unvermindert an, machte diese Stadt „doch eine Ausnahme“. 72 Hier ging es nicht um touristische Pflichtübung, sondern um „Idee“, deren manipulierter Charakter — zumindest zeitweilig — von ihrer Suggestionskraft zugedeckt wurde. Gerade damals rückte Goslars ehrwürdige Pfalz in den Mittelpunkt von Bemühungen, diese Stätte einstiger Kaisermacht der Stiftungslegende des Hohenzollernkaisertums dienstbar zu machen. Dies um so mehr, als die alles Sakralen gänzlich entkleidete Neuschöpfung des Bismarckreichs anfangs auf einen Brückenschlag zwischen dem alten und dem neuen Reich nicht verzichten wollte. Zur Eröffnung des ersten deutschen Reichstages nahm Wilhelm I. auf dem berühmten Goslarer Kaiserstuhl Platz, der eigens nach Berlin geschafft worden war, um an diesem Tage gleichsam als Reichsthron zu dienen. Seit 1879 arbeitete Professor Wislicenus, „eine Säule der weltlichen Wandmalerei Deutschlands“, daran, die Wände des großen Kaisersaals mit einem Gemäldezyklus auszuschmücken, der, ungeachtet aller Widersprüchlichkeit im her-
Heft
(1985) 40
Seite
169
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