Abgesehen von diesen künstlerischen Qualitäten, die Fontane Zeit seines Lebens anerkennen wird, besitzen Ibsens Werke jedoch eine Eigenschaft, die Fontane nicht nur schon von Anfang an überall bemängelt (eine Ausnahme stellt nur die Wildente dar), sondern die ihn im Lauf der Jahre auch dazu führt, das ursprüngliche Lob der „Wahrheit und Ungeschminkt- heit der Wiedergabe des Lebens“ kurz vor seinem Tod geradezu umzukehren in die sich erneut gegen den Zeitgeist, nun unkritischer Ibsenschwärmerei, stellende ungehaltene Äußerung:
Da quatscht jetzt jeder von Ibsens Wahrheit, aber gerade die spreche ich ihm ab. Er ist ein großer epochemachender Kerl, aber mit seiner Wahrheit kann er mir gestohlen werden. In der Mehrzahl seiner Dramen ist alles unwahr, die bewunderte Nora ist die größte Quatschliese, die je von der Bühne herab zu einem Publikum gesprochen hat. 33
Wogegen Fontane sich wehrt, das ist der eigentliche Ideengehalt der Werke Ibsens, seine „Thesen“. Auf eine These reduziert sich beispielsweise für ihn der Gehalt der Gespenster, den er mit Bezug auf den erbkranken Sohn Oswald kurz so zusammenfaßt: „Der Väter Sünde, der Kinder Fluch“. (II, 695) In seiner Besprechung unterzieht er sich der Mühe, in zahlreichen historischen Beispielen die Nichtigkeit dieses Satzes darzulegen. Wird diese Bemühung wohl auch aus seiner eigenen Biographie verständlich (Fontane selbst war zweifacher Vater ,nicht folgenloser Abenteuer“ 34 ), so ist sein kritischer Einwand doch vor allem prinzipieller Natur. Dies zeigt folgende Überlegung zur Wildente:
Es ist das Schwierigste, was es gibt (und vielleicht auch das Höchste), das Alltagsdasein in eine Beleuchtung zu rücken, daß das, was eben noch Gleichgültigkeit und Prosa war, uns plötzlich mit dem bestrickendsten Zauber der Poesie berührt (...) „Und vielleicht das Höchste“, sage ich; freilich, vielleicht auch nicht. Diese schwierigen letzten Fragen sind eben in der Schwebe. Der, für den sie abgeschlossen sind, erscheint mir wenig beneidenswert. (II, 696, Hervorhebung v. Fontane)
Die „schwierige letzte Frage“, die Wahrheit ist in der Schwebe, sie kann nicht durch ein subjektives Wahrheitsbewußtsein gelöst werden, wie es das Ibsensche, und schließlich jede Doktrin schlechthin beansprucht. Bezeichnend ist, daß für Fontane in diesen Jahren das „Tiefste“, was je über Mensch und Menschendinge gesagt worden ist“, das Schillerwort wird: „Nur der Irrtum ist das Leben, und die Wahrheit ist der Tod“ 35 . Der Künstler wird durch das unverbildete und unverbildende Eindringen in die Komplexität der Erscheinungswelt der Wahrheit so nahe kommen, wie er es vermag, erreichen wird er sie nicht. Die Überzeugung des Künstlers, die Wahrheit auf seiner Seite zu haben, verleiht seinem Kunstwerk „Aufrichtigkeit“ und relative Überzeugungskraft (II, 708), doch die absolute Wahrheit entzieht sich dem subjektiven menschlichen Erkenntnisvermögen. Der bewußte Anspruch, das Kunstwerk zum Träger seiner „Doktrin“ zu machen, unterwirft dieses nicht nur geistigen Moden (weshalb Ibsens Werke nach Fontanes Ansicht bald veralten sollten 30 ), sondern