bringt die ästhetische Einheit des Kunstwerks selbst in Gefahr. Dies ist der Fall in der Frau vom Meere, wo für Fontane die Konsequenz vor Ellidas Charakter an der forcierten Demonstration der „Selbstbestimmungsthese“ leidet. Ellida steigert sich durch die geheimnisvolle Bindung an „den Mann aus dem Norden“ in eine
Wangel-Kühle, die wir im vierten Akt bis zum Gefrierpunkt sinken sehen (...) Sie mag ihn nicht, sie bangt vor Intimitäten, sie hat ihm das alles gesagt und ihre Ehe rundweg als Nichtehe erklärt. Nicht nur Natur-, sondern auch Herzensmächte scheiden sie von ihm. (II, 603)
In dieser Lage wäre es konsequent, wenn Ellida dem Mann aus dem Norden folgte, als dieser eines Tages sein Recht auf sie geltend macht. Ellida- jedoch verhält sich passiv und erst der Entschluß Wangels, ihr die freie Entscheidung zu überlassen, macht sie frei, nicht nur von dem geheimnisvollen Band mit dem Fremden und dem Meer, sondern auch für die Ehe. Wangels Entscheidung: „Du bist frei“ kommentiert Fontane — damit indirekt auch die in Wangel gestaltete Konzeption Kierkegaards der ethischen Wahl in ihre Grenzen weisend — folgendermaßen:
(Das) ist die Zauberformel, vor der jeder andere Zauber schwindet. Jetzt ist die wirkliche Ehe geschlossen, jetzt ist die Echtheit, die Sittlichkeit da, jetzt verlohnt es sich wieder zu leben; wenn es sein muß meerlos und — selbst mit Wangel. Nicht nur der „Mann aus dem Norden“ ist ein überwundener Standpunkt (...) auch die Sehnsucht nach dem Meer tritt in badeörtliche Begrenzung. Ehe, Familie, Glück, Gesundheit — alles ist wieder hergestellt, weil das Wort „frei“ gesprochen wurde. Ich bin auch für Freiheit und die „Vos- sische Zeitung“ noch mehr; aber so viel werden wir beide von der Freiheit nicht erwarten. Auch die Freiheit, wie alles im Leben, kocht schließlich nur mit Wasser, und Ellida zu bekehren, das soll ihr schwer werden. Sie kann es vielleicht, aber nicht einfach dadurch, daß sie sagt: „Hier bin ich.“ Es kommt dadurch etwas Doktrinäres in das Stück, das verstimmt und herausfordert und an das man nicht glaubt. (II, 604, Hervorhebung v. Fontane)
Das „Doktrinäre“ ist die neue ideale Welt, die Ibsen den bürgerlichen Konventionen gegenüberstellt:
(Er) zerreißt in allen seinen Stücken das Lügengebilde der bürgerlichen Konventionen, die Phrasen, die wir uns gewöhnt haben, „Ideale“ zu nennen, Lügenideale (II, 695), um dahinter neue Ideale aufscheinen zu lassen.
Fontane vollzieht den ersten Schritt mit, den zweiten lehnt er ab. Möglich ist für ihn nur die Darstellung der Gesellschaft mit ihren Kontrasten und Widersprüchen, nicht deren Auflösung durch Thesen mit absolutem Wahrheitsanspruch. Künstlerisch enden solche Versuche in einer unglaubwürdigen, weil die komplexen und kontrastreichen Vorgänge mißachtenden, „unrealistischen“ Darstellung. Das Bewußtsein um die Unmöglichkeit einer gesicherten Erkenntnis der objektiven oder auch nur subjektiven Wahrheit bewirkt die oft besprochene „Resignation“ 37 Fontanes bzw. sein sich
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