Wahrheit, Frieden und Liebe verzehrt; dazu Bauernkind und Säufertochter mit herrnhutischer Erziehung, welche letztere nicht bloß obenauf liegenblieb, sondern ihr ins Herz drang. (II, 717) Milieuschilderung durch Charakterzeichnung, wobei die Handlung nur noch Mittel ist, lautet dann explizit das dramaturgische Programm der Naturalisten Arno Holz und Johannes Schlaf. 46 In ihrer Familie Selicke, die am 7. 4. 1890 in der Freien Bühne zur Aufführung kam, versuchen sie, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Das Berliner Milieu und die Charakterzeichnung sind es daher auch, die in erster Linie Fontanes Aufmerksamkeit auf sich ziehen in diesem „Drama“, mit dem nach seinen Worten „eigentlichstes (dramentechnisches, L G.) Neuland“ betreten wird: Das Stück beobachtet das Berliner Leben und trifft den Berliner Ton in einer Weise, daß auch das Beste, was wir auf diesem Gebiete haben, daneben verschwindet. Und in einem nahen Zusammenhänge damit ist die glänzende Charakterzeichnung der auftretenden Figuren, aller ohne Ausnahme. Figuren wie den „alten Kopelke“ gezeichnet zu haben, könnte jeden Dichter, der mit seiner Kunst im modernen Leben steht, mit Stolz erfüllen. (II, 732, Hervorhebung v. Fontane)
Was indes in Vor Sonnenaufgang nicht bemängelt wurde, das ist hier die „traurige Tendenz nach dem Traurigen hin“ (II, 733), die ausschließlich pessimistische Stimmung, die, wie Fontane ironisch in dieser figura etymologica andeutet, durch die Kontrastlosigkeit, Einseitigkeit der Darstellung entsteht. Noch deutlicher wird sein Urteil in der Kritik von Hauptmanns Friedensfest, mit der seine Rezeptionstätigkeit bei der Vos- sischen Zeitung endet:
Es gebricht an dem richtigen Maß; es fehlt etwas, und es hat auch wieder zuviel. Es hat zuviel darin, daß man immer mit derselben Elendigkeit gepeinigt, ich möchte berlinisch sagen gepiesackt wird, und diesem einseitigen Zuviel entspricht ein Zuwenig nach anderer Seite hin. Es fehlt an Abwechslung. Was an Humor da ist (die Gestalt des Hausknechts Friebe), ist zu knapp bemessen und dazu von solcher, übrigens allerechtester Eigenart, daß er teils moralische, teils intellektuelle Inferioritätsstempel, den die ganze Dr. Scholz- Familie trägt, dadurch nicht aufgehoben, sondern noch gesteigert wird. Es fehlen die künstlerischen Gegensätze (...) (1. 6. 1890, II, 742) In der letzten Rezension, der Weberkritik, die Fontane drei Jahre nach seinem offiziellen Ausscheiden aus der Vossischen Zeitung anläßlich der Uraufführung (anonym) veröffentlicht, geht er eigentlich nur auf diese künstlerische Kontrastierung ein. Während er den Inhalt mit der lakonischen Beschreibung: „Es ist ein Drama der Volksauflehnung, das sich dann wieder, in seinem Ausgange, gegen diese Auflehnung auflehnt, etwa nach dem altberlinischen Satze: ,Das kommt davon“ 1 (II, 681) zusammenfaßt, ist für ihn das künstlerische movens letztlich nicht die revolutionäre Tendenz des Inhalts, sondern „einzig das Elementare, das Bild von Druck und Gegendruck“ gewesen. Mit dieser künstlerischen Motivierung erklärt er auch die Notwendigkeit des „antirevolutionären“ Dramenschlusses, der „aber auch darin sein Gutes hat“, daß er — wie Fon-