schießen, wenn man sie anhand eines Maßstabes kritisiert, den zu berücksichtigen kaum ihrer Zielvorstellung entsprach? Oder wird nicht vielmehr in der Konzeption solcher Auswahlbändchen das „Unterhaltungsbedürfnis“, ganz zu schweigen von dem Informationsbedürfnis und dem literarischen Interesse des potentiellen Lesers, nachlässig unterschätzt? Konzession an einen real existierenden Publikumsgeschmack oder Ausdruck dessen, was man dafür hält?
Was wollen diese Bücher, die dem Leser das eigenständige Aufspüren der „Kostbarkeiten“ selbstsicher abnehmen, ihm auf diese Weise einen Fontane aus zweiten Hand präsentieren? Explizit oder implizit geben sie alle zu erkennen, daß sie „Lebensweisheit“, „Lebensklugheit“, „Lebenskunst“ zu vermitteln gedenken. Sie wollen Brevier sein, Vademecum, Begleiter in allen Lebenslagen. Sie wollen unterhaltend belehren und belehrend unterhalten. Die Einführung in das Werk, das Vertrautmachen mit der Denkweise, die Begegnung mit der Persönlichkeit des Dichters tritt bei dieser neueren Generation der Fontane-Anthologien eher in den Hintergrund. Sollte es nicht sehr nachdenklich stimmen, wenn das oft nur unzulänglich reflektierte Etikett der „Lebensweisheit“ den eigentlichen Gegenstand zu verdecken droht? Ist Fontane überhaupt noch der eigentliche Gegenstand?
Da diese kleinen Anthologien wohl vorwiegend solche Leser ansprechen, die Fontane bislang nicht oder nur wenig kannten, stellt sich die Frage nach dem Bild des Dichters, das stillschweigend vorausgesetzt und durch die Präsentationsweise implizit vermittelt wird. Wenn es zutrifft, daß der erste optische Eindruck das Vorverständnis nachhaltig beeinflußt, dann wird mancher Leser geneigt sein, „seinen“ Fontane in die Schublade hübscher Beschaulichkeit zu stecken. Für das Büchlein aus der Krisenbibliothek etwa wurde als Titelillustration eine idyllische Szene von der Hand Ludwig Richters gewählt, die über Fontane nichts aussagen kann und im Hinblick auf seine Gedichte falsche Erwartungen weckt. Die „Kostbarkeiten“ schmücken sich mit Blumenillustrationen, die in eine Sammlung von Liebesgedichten eben so gut (oder so schlecht) paßten wie in ein Poesiealbum. So verursacht der verniedlichende Zuckerguß, der die Schmackhaftigkeit der vorgelegten Fontane-Auswahl erhöhen sollte, wohl eher literarische Zahnschmerzen. „Realistisch“ oder „wahrhaftig“ ist das Bild Fontanes nicht, das sich aufgrund jener Auswahlbände konstituiert. Dies liegt zum Teil in dem Defizit begründet, das das Prinzip der Anthologie zwangsläufig mit sich bringt: Sie kann präsentativ, aber kaum repräsentativ, exemplarisch, aber nicht vollständig sein, sie vermag Perspektiven aufzuzeigen, ohne der differenzierten Vielfalt der Perspektiven je ganz gerecht werden zu können. So können diese Anthologien kein Portrait anbieten, sondern kaum mehr als eine unvollständige Skizze. Selbst in der bewußten Beschränkung auf die Gedichte Fontanes kommt das Eigentliche des Lyrikers nur unvollständig zum Vorschein. (Die politischen Gedichte der Vormärzzeit sind ebenso unterrepräsentiert wie die tiefgehende Alterslyrik; historische und preußische Balladen treten fast überhaupt nicht in Erscheinung.) Ähnliches gilt auch für jene Auswahl-
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