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lV. Ls. Riehl in München.
Mittagsstunde des Lebens hinausgeschritten, dann sehnen wir uns wieder zurück nach einem verlorenen Paradiese, nach dem Paradies der Jugend. Das gilt vom Leben jedes Einzelnen, das gilt vom Leben der Völker. Und das verlorene Paradies der modernen Culturvölker ist das elastische Alterthum, das herrliche Jünglingsalter der Menschheit" — —
Der Professor unterbrach sich; er merkte, daß er allein spreche, daß er docire; und es ist geschmacklos, in Gesellschaft zu dociren, vorab bei schönen Frauen.
Frau von Bechen hatte wahrend der ganzen Rede vor sich hin auf den Tisch geblickt, wo seine Visitenkarte lag. Hatte sie zugehört? hatte sie ihn verstanden?
Als er schwieg, sah sie ihn mit großen Augen an, nahm die Karte und sprach: „Ihr Namenszug gleicht der Handschrift Ihres seligen Bruders
Hugo zum Verwechseln. Es ist die Walter'sche Familienhand. Ihr Bruder sagte mir, daß er seine Schriftzüge trotz aller Gegenbemühungen des Schreiblehrers der derben altmodischen Feder seines Vaters nachgebildet, so widerstandlos habe der gestrenge alte Herr überall sein Haus beherrscht und bestimmt."
„Sie kannten meinen Bruder?"
„Ich kannte ihn nicht blos: er war mein bester Freund und ich bin ihm zu unauslöschlichem Danke verpflichtet. Als darum mein Arzt gestern Ihren Namen nannte, als ich erfuhr, daß Sie in Trier weilen, beschloß ich sofort, Sie zu sehen, ich luv Sie ein, obgleich ich sonst jeden Besuch ablehne, weil ich in meinem köstlichsten Besitz, in meiner Einsamkeit, nicht gestört sein will."
Nun ging dem Professor ein Licht auf über das Entgegenkommen der unnahbaren Dame, und er verzieh ihr, daß sie von seinem philologischen Ruhme offenbar gar nichts wußte.
Sie fuhr fort: „So sehr Ihre Schrift der brüderlichen gleicht, finde
ich doch in Gesicht und Gestalt nur geringe Ähnlichkeit."
„Auch Andere bemerken das Gleiche," entgegnete Jener. „Hugo schlug in die väterliche Art; ich dagegen in die mütterliche."
„Aber mehr noch als Ihre Handschrift gemahnten mich die Gedanken, welche Sie vorhin so beredt entwickelten, an Ihren verstorbenen Bruder. Und doch ist auch da wieder ein großer Unterschied. Genau wie Sie von Ihren griechischen Büchern, sprach er, der Pastor, von seiner Bibel, und tröstete sich und uns damit, daß uns hier in allem Wandel des Wissens und Lebens ein unwandelbar und ewig Festes gegeben sei. Doch hat Ihnen der Bruder niemals von seinem Verkehr mit meiner Familie, von seinen Besuchen auf Schloß Laubenstein erzählt?"
„Ich habe Hugo leider nur wenig gekannt. Fünfzehn Jahre älter als ich, verließ er das Elternhaus und bezog die Universität, da ich erst drei Jahre zahlte; dann kam er rasch in's Amt auf weitentlegenen Ortschaften und starb als Pastor zu Schönau, als ich eben in Leipzig studirte."