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M. Kirsch in ^?ouii.
ziemlich leicht. Die Trägerin des Stöckelschuhes läßt nicht nur den Promenaden- schnh, sondern auch den Pantoffel mit dem hohen Absatz bewaffnen; denn selbst im Boudoir will sie die Selbsttäuschung haben, daß ihr Fuß verkürzt erscheint. Jeden Augenblick also, in welchem der Fuß die Körperlast zu tragen hat, befindet sich der Fuß in einer Lage, als stünde er auf einer schiesgeneigten Ebene. In dieser Lage genießen die Gelenke der unteren Extremitäten und vor Allem das Kniegelenk niemals die Wohlthat in die Stellung zurückzukehren, in welcher das Gewicht des Körpers von den Bändern gehalten wird, und es ist nicht nur beim Gehen, sondern auch beim Stehen eine fortdauernde Muskelanstrengnng nothwendig, um den Körper aufrecht zu erhalten. Ohngefähr können wir uns diese Muskelanstrengnng veranschaulichen, welche die Trägerin des Stöckelschuhes den ganzen Tag hindurch zu leisten hat, wenn wir bedenken, daß ihr Fuß sich in derselben Lage befindet, wie der eines Menschen, welcher einen Bergabhang hinunter geht. Jeder, welcher ein Mal einige Stunden hintereinander bergab gegangen ist, weiß, welche Anstrengung diese Bewegung für das Kniegelenk und seine Streckmuskeln bedingt.
Der bildsame Fuß des jungen Mädchens erleidet aber auch selbst durch die unzweckmäßige Tracht zuweilen eine schädliche Formverändernng. In der dauernd aufgezwungenen Stellung strebt das Körpergewicht die Köpfchen der Mittelfußknochen der Ferse zu nähern, die Zehen werden gezwungen nach aufwärts zu weichen, der Fuß wird in einen abscheulichen Hohlfnß verwandelt, welcher bei dem Auftreten gar nicht mehr federt. Da ein so verbildeter Fuß zum Gehen unbrauchbar ist, so folgt dem Fröhnen der Eitelkeit eine schwere Buße. Nur ganz allmälig kann das Körpergewicht die verschobenen Gelenke wieder gerade richten, wenn entweder barfuß oder mit einer Sandale gegangen wird, welche vorne höher ist als hinten. Eine monatelange Verbannung in einen unbesnchten Landaufenthalt ist deswegen zuweilen nöthig, um wieder einen zum Gehen brauchbaren Fuß zu erlangen.
Wenn wir uns nun fragen, nachdem wir die Nachtheile des Stöckelschuhes in kurzen Zügen geschildert haben, wie es möglich gewesen ist, daß eine solche widersinnige Mode eingeführt werden konnte, so können wir, wie ich glaube, die europäischen Mandarinen-Töchter von dem Vorwurfe frei sprechen, daß sie dem Fuß-Ideale ihrer Schwestern in einem fern im Osten gelegenen Staate nachgestrebt hätten. Einen so verkürzten und so hohlen Fuß, wie ihn die Chinesinnen der höheren Stände durch eine in frühester Jugend eingestellte antiorthopädische Behandlung erlangen, erreichen wir durch den Stöckelschuh nicht, selbst wenn wir den Absatz, um seine Wirkung zu verstärken, fast bis zur Mitte der Sohle Vorrücken. Der vom Stöckelschuhe verbildete Fuß zeigt uns nur die erste Etappe auf dem Wege der Ausbildung zum Chinesischen Fuße, bleibt aber Gottlob im Vergleiche zu diesem hohen Vorbilde nur eine Stümperei. In China haben übrigens, beiläufig gesagt, nur die Frauen der höheren Stände derartige, nach dortigen Begriffen elegante, verkrüppelte Füße, so daß inan auf den ersten Blick erkennt, daß der Besitzerin ihre Mittel