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j)aul Lindau in Berlin.
französischen Bühnenliteratur, in welchem die Courtisane in ihrer Beziehung zur Familie den Mittelpunkt des Interesses darstellt, und somit als eine Vorläuferin aller jener sehr zahlreichen Stücke zu betrachten, die man mit dem nicht ganz correcten Titel als „Demimondestücke" zu bezeichueu pflegt. Obgleich Augier dem Gemälde seiner Heldin noch einige ideale Züge gegeben und es sich Vorbehalten hat, die Courtisane erst später ihres lügnerischen, bestrickenden Aufputzes zu entkleiden und in ihrer vollen, widerwärtig nackten Häßlichkeit an den Pranger zu stellen — Clorinde gehört unter den Schlechten noch immer zu den Besten; nicht durch die Habgier, sondern nur durch das sehr gerechtfertigte Verlangen, die Achtung der Menschheit wieder zu gewinnen, läßt sie sich in ihrem Handeln bestimmen; ihr Gemüth ist der bittren Reue zugänglich und ihr Herz dem edelsten der Gefühle, der wahren Liebe — obgleich also Augier selbst für mildernde Umstünde plaidirt, so versucht er doch keineswegs durch Sophismen und spitzfindige Kniffe die Freisprechung der schuldigen Heldin zu erwirken. Er straft sie, er wirft sich als entschiedener Anwalt der Familie aus gegenüber den Angriffen, die dieser von den zersetzenden und zerstörenden Elementen der Unsittlichkeit drohen.
IV.
Dieselbe Tendenz liegt seinem nächsten Stücke, „Gabriele" (13. Deeember 1849), zu Grunde und gewinnt hier eine andere, viel behaglichere und schon darum intensiver wirkende Gestalt. Wenn „Ua Oigns" den Namen Augiers schnell berühmt gemacht, „Un bormuo cks dien" den Beweis geliefert, daß das erste Lustspiel kein glücklicher Wurf, sondern der echte Ausdruck eines echten Talentes gewesen war, und endlich „lü^vsrckurisro" die Bedeutung des Dichters festgestellt und ihm die respectvollen Sympathien des Publicums zugewandt hatte, so wurde er durch „Gabriele" ein Lieblingsdichter seiner Nation. Das Stück hat bei aller Flottheit doch einen kleinen Beigeschmack von Philisterhaftigkeit, der dem großer: Publicum immer mundet. Es ist kräftiges, hausbackenes Schwarz- brod. „Gabriele" ist, wenn man will, die Poesie der Prosa, oder vielmehr die Verherrlichung dessen, was als prosaisch und spießbürgerlich gilt, und der Nachweis, daß diese Prosa oft die wahre Poesie ist. Das Stück ist die siegreiche Vertheidigung des Gatten gegenüber den: Geliebten. Augier hat sich die Aufgabe nicht leicht gemacht. Er macht den Geliebten nicht zu einem unsittlichen, gewissenlosen Menschen, der die Antipathie herausfordert, und den Ehegatten nicht zu einem bestrickend liebenswürdigen Maun, der im Fluge alle Herzen gewinnt. Die Sittlichkeit hat einen harten Kampf zu bestehen. Um so mehr freut sich der Brave ihres Sieges.
Der Advocat Julien Chabriere ist ein kreuzbraver Mann, aber, man muß es gestehen, ein recht langweiliger Gemahl. Er besitzt eine große Anzahl von achtungswerthen Eigenschaften, jedoch keine recht liebenswerthe. Er ist fleißig, sparsam, selbstlos, er arbeitet Tag und Nacht, um seiner Frau einen