Heft 
(1879) 25
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Paul Lindau in Berlin.

jenem hat das spätere Stück noch den Vorzug voraus, daß es durch den fester gefügten fcenifchen Bau wirkungsvoller auf der Bühne und im Ansgang weniger gewaltsam ist.

Auch hier ist die Heldin die verheirathete Courtisane, jedoch unterscheidet sie sich wesentlich von Olympia. Olympias Ausschweifungen liegen vor der Ehe. Sie bringt in das Haus, das sie als Herrin betritt, eine besudelte Ver­gangenheit sie bringt die Schande schon hinein. Seraphine hingegen,die arme Löwin," wird erst in der Ehe selbst lasterhaft, und jenes tolle Leben, das Olympia schon geführt hat, wenn der Vorhang zum ersten Male sich hebt, wird für Seraphinen erst beginnen, nachdem der Vorhang zum letzten Male gefallen ist. Seraphine hat nicht, wie Olympia, eine unwiderstehliche Freude an der Ausschweifung; sie kann nicht wie jene ihre Liebhaber nach Dutzenden zählen. Sie hat während des Stückes nur ein unerlaubtes Verhältnis;; aber- die Prophezeiung, die Valentin mit dem Stich in der Brust feiner unglück­lichen Schwester entgegenschleudert, wird für Seraphinen unzweifelhaft ein- trefsen. Scraphine ist nicht minder verächtlich als Olympia. Sie bricht die eheliche Treue, sie bricht das Leben ihres braven Mannes, lediglich um ihrer Putzsucht, ihrer blöden Freude am Luxus zu genügen. Da das Budget ihres Mannes, eines rechtschaffenen kleinen Beamten, ihr nicht gestattet, die kost­spieligen Vergnügungen des Pariser Lebens und den erforderlichen Aufwand in der Toilette zu bestreiten, so verkauft sie sich, ohne den Mann, der den schmählichen Handel eingeht, auch nur in; Entferntesten zu lieben. Durch eine Modistin erfährt der Gatte die Wahrheit, die ihn vernichtet. Er trennt sich von dem ehrlosen Weibe, verläßt die Wohnung und geht in der Einsamkeit zu Grunde, während die Schuldige von einer Baleon-Loge aus bei der ersten Vorstellung eines neuen Stückes ihr schönstes Kleid zum Besten gibt.

Dieser realistische Abschluß, der mit der conventionellen Abrechnung am. Ende im Widerspruch steht, war es vornehmlich, der die Bedenken der kurz­sichtigen Censurbehörde und auch die der Kritik hervorrief. Hier wurden weder die Geigen zum Hochzeitsreigen gestimmt, um die Tugend zu belohnen, noch wurde die in. üagranti festgestellte Schuld auf der Stelle genügend abgestraft; im Gegentheil, der Schuldlose fiel als Opfer, und die Schuldige triumphirte für den Augenblick. Die Cenfur war so geschmacklos, dem Dichter vorzuschreiben, er solle Seraphinen dadurch bestrafen, daß er sie zwischen dem dritten und vierten Acte an den Blattern erkranken und durch Pockennarben entstellen lasse. Augier machte sich darüber natürlich lustig und sagte, er hätte dann sein Stück vielleichtUeber den Nutzen der Kuhpocken- Jmpfung" nennen können. Er setzte es durch, daß das Stück, so wie er es geschrieben hatte, zur Aufführung kam. Jeder Tiefersehende mußte in der That erkennen, daß der Triumph des Lasters und das Unterliegen der Tugend in diesem Stücke nur scheinbare waren, daß Seraphine, auch wenu sie einst­weilen noch strahlte und lächelte, dem Schimpf und Jammer unrettbar preis­gegeben war, daß der Henker vor der Thür stand und zur rechten Stunde