Heft 
(1986) 41
Seite
287
Einzelbild herunterladen

Fontanes Meinung nach hatte der moderne Roman die Aufgabe,ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Widerspiei des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in der Erinnerung an eine bestimmte Lebens­epoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren, ähnlich wie manche Träume sich unserer mit gleicher Gewalt bemächtigen wie die Wirklichkeit. 2 Uber diese Fähigkeit zur Stellver­tretung ihrer Zeitgenossen verfügen viele Kunstfiguren Fontanes. Sie bewegen sich, scheint es, auch in demselben Milieu; daß eseine augen­scheinliche Absurdität ist,aus dem dargestellten Raum in den realen sozusagen hineinzuspazieren und umgekehrt 3 , stört ihn wenig; dieFon­tanestadt, von der Heilborn sprach, läßt sich bis ins einzelne mit ihrem Vorbild identifizieren. Dadurch wird sie, das ist richtig, nicht mit ihm identisch. Sie ist auch nicht identisch mit dem Berlin Paul Lindaus, Fritz Mauthners oder Heinrich Seidels, die sich in den achtziger Jahren gleich­falls beeilten, die Stadt zum Schauplatz und Gegenstand von Roman und Erzählung zu machen. Sie kamen damit Erwartungen nach, die nach der Reichseinigung hervortraten und eine hundertjährige Debatte über die Bedeutung nationalstaatlicher Zentren für den Fortschritt nationaler Lite­raturen fortsetzten. Der sogenannteBerliner Roman war eine Probe aufs Exempel, er schien am ehesten geeignet, es anderen Literaturen in der Darstellung des modernen Gesellschaftslebens gleichzutun.

Fontane war sich dieser Konstellation bewußt. Um so mehr enttäuschten ihn fast ohne Ausnahme die Arbeiten derjüngeren Kräfte 4 , mit denen er auf dem Gebiet konkurrierte. Das war der Grund, weshalb er sich überhaupt zu der programmatischen Äußerung über die Aufgaben ver­anlaßt sah, die der moderne Roman, das heißt in erster Linie sein eigener, erfüllen sollte. In die diffizilen Überlegungen, die er über die Ursachen seiner Unzufriedenheit anstellt, braucht man ihm hier nicht zu folge». Denn zunächst läuft alles auf seine Überzeugung hinaus, daß er die Wirk­lichkeit besser kannte und richtiger darzustellen verstand. Ob es womöglich eine andere Wirklichkeit war, zog er, während er sich auf seine Erfah­rungen berief, nicht in Betracht 5 .

Immerhin hatte er seinen Mitbewerbern ein Menschenalter und mehr an Lebenszeit voraus, die er zum weitaus größten Teil in Berlin verbrachte. Was diese Stadt für ihn bedeutete, kam unwillkürlich in einer Bemerkung zum Ausdruck, die mit Max Kretzer ins Gericht geht, den manche für den deutschen Zola hielten. Kretzer sorgte ebenfalls mit Berliner Romanen für Aufsehen. Die Geschichte, um die es sich handelte, war seine beste; konventionell, aber eindrucksvoll erzählt sie die Tragödie eines biederen Drechslermeisters, den Kapital, Industrie und Urbanisierung um seine Familie, um den Besitz und das Leben bringen. Man schrieb das entschei­dungsvolle Jahr 1888, Fontane war 68; er hielt sich zur Sommerfrische, wo er regelmäßig Zuflucht vor dem verhaßten Hitzedunst der großen Stadt suchte, im Riesengebirge auf und teilte mit:Unter anderm habe ich, aus Schillerstiftungspflichteifer, Max Kretzers neusten Roman .Meister Timpe, gegen Barzahlung von 6 Mark, mit auf die Reise genommen und kann

287