nun in der immer wieder auftauchenden Kretzerfrage mein Gutachten abgeben. Er kommt besser, aber auch schlechter weg, als ich dachte. Das Widerliche, das in seinem Romane .Drei Weiber' eine so große Holle spielt, fehlt hier ganz, aber dafür ist dies neue Buch trostlos und langweilig und, was mir das überraschlichste ist, nach meiner Meinung ganz unrealistisch. Er hat unterm Volk und in der Werkstatt gelebt und kann doch beides nicht schildern. Ich lebe jetzt 55 Jahx* in Berlin und habe nicht bloß beim Prinzen Friedrich Karl zu Mittag gegessen; ich habe auch Volk kennengelernt und kann nur sagen: mein Berliner Volk sieht anders aus. Was er gibt, sind mehr angelesene als erlebte Figuren “. ü Auch Fontanes „Bankiers-, Geheimrats- und Kunstkreise“ 7 sahen anders aus. Wenn er Kretzer entgegentrat, äußerte sich nicht bloß der Gegensatz im Kunstkonzept, ein Grundton gesellschaftlicher und professioneller Superiorität wurde vernehmbar. Fontanes Berlin war der Ort seiner grundlegenden Sozialerfahrungen, die von anderer Art waren als die des Kontrahenten. Es war der Schauplatz eines Werdegangs, der ihn nicht nur im literarischen Leben Fuß fassen ließ, sondern auch in der guten Gesellschaft; nicht zuletzt brachte er ihn mit der vornehmen Welt in Berührung. Vor allem war es der Gegenstand, für den er schriftstellerische Kompetenz beanspruchte und bewies. Auch seine Kompetenz für die preußischen Junker und ihre Lebensweise, die sich damit die Waage hielt, hat er vorwiegend in der preußischen Haupt-und Residenzstadt erworben. Daß er Berlin zum Zentrum seiner Existenz und zum „Thema seines Lebens“ 8 machen würde, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden und blieb lange zweifelhaft. Es kam dazu erst auf einem schwierigen Weg durch den Vor- und Nachmärz, auf dem er einen nicht geringen Teil des sozialen und politischen wie des literarischen Lebens der Stadt durchlief.
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In der Stadt der Bildung und des sozialen Gegensatzes
Als Fontane 1833 in Berlin eintraf, kannte er die Orte seiner „Kinderjahre“: die märkische Landstadt Neuruppin, wo er geboren wurde, und den kleinen Ostseehafen Swinemünde, der sich in seiner Erinnerung manchmal wie ein maritimes Seldwyla ausnimmt. Über die anderthalb Jahre, die er zuletzt wieder in Neuruppin auf dem Gymnasium zubrachte, wahrte er beredtes Schweigen; es wäre ein Wunder, wenn er bei seiner regellosen Vorbildung keine größeren Schwierigkeiten gehabt hätte. Jedenfalls schickte der Apotheker Louis Henri Fontane seinen Ältesten anschließend nach Berlin auf einen zweiten Bildungsweg. Die wirklichen Folgern für dessen Leben konnte niemand ahnen. Aber daß damit über seine Zukunft entschieden wurde, unterlag keinem Zweifel. Denn die städtische Gewerbeschule, die nach ihrem Mitbegründer und Direktor, einem namhaften Pädagogen und vielseitigen Gelehrten, die Klödensche genannt wurde, bereitete auf den Beruf, nicht auf die Universität vor. Sie war als Alternative zum humanistischen Gymnasium gedacht; statt der alten Sprachen und der Geschichte wurden die Naturwissenschaften sowie Deutsch, Englisch und Französisch gelehrt, um „eine allgemeine und umfassende Ausbildung für denjenigen Beruf im bürgerlichen Leben