Heft 
(1986) 41
Seite
291
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Das Vogtland, das die berüchtigtste Elendsgegend der Stadt und ein Sam­melplatz dunkler Existenzen war, kann ihm nicht entgangen sein. Er wird wohl auch nicht erst durch die progressive Publizistik der vierziger Jahre von den Familienhäusern vernommen haben. Diese Massenquartiere, die eine Vorform der eigentlichen Berliner Mietskasernen darstellten, waren ein öffentlichtes Schreck- und Ärgernis, schon bevor sie durch Gutzkow und Bettina von Arnim zum landesweit bekannten Schulbeispiel für die erbarmungslose Ausbeutung des Pauperismus durch spekulative Unter­nehmer wurden. 1,1

Soviel ist gewiß: Der junge Mann war tiefer, als er nachher wahrhaben wollte, in ein Milieu geraten, das durch seine Bewohner und seine Stadt­lage zur Übergangs- und Grauzone zwischen den sozialen Sphären gehörte. Man kann davon ausgehen, daß er damals die elementare Erfahrung einer in Arm und Reich, Besitzende und Habenichtse gespaltenen Gesellschaft machte. Der romanschreibende britische Staatsmann Benjamin Disraeli brachte diese zeiteigene Erfahrung, die jedem Eindringen in die zugrunde­liegenden Klassengegensätze vorgelagert war, 1845 auf das Schlagwort Two nations 15 . Die zwei Nationen, die es, wie Lenin nachmals fest­stellte, in jeder modernen Nation gab 111 , waren eine Lebenstatsache vor allem der großen Städte, kein theoretisches Konstrukt. Daß Fontane in dieser Spaltung während seiner Schul- und Lehrjahre ohne einen Begriff von den modernen Klassenkämpfen in Frankreich und ihren ideologischen Reflexen den zur Kollision drängenden sozialen Anta­gonismus wahrgenommen hätte, ist undenkbar. Auf die Tatsache selbst ging er allerdings zu einem erstaunlidi frühen Zeitpunkt ein. Ganz unter dem frischen Eindruck sozialistischer Ideen, deren Aneignung in Deutsch­land gerade in Gang kam, wollte er 1843 den englischen Arbeiterdichter John Prince bekanntmachen. Um dessen Milieu zu veranschaulichen, nimmt der Erzähler seinen Leser beim Arm und geleitet ihn aus einer pfingstlich lachenden Natur, vorüber an den Palästen des Reichtums, in die Not und Finsternis, die in den Arbeitervierteln der Industriestadt Manchester herrschen. 17 Daran ist weniger das literarische Klischee bemer­kenswert als der Umstand, daß Fontane von einer persönlichen Kenntnis solcher Verhältnisse aus seiner Berliner Nachbarschaft weder jetzt noch später etwas durchblicken ließ. Man gewinnt den durch andere Beob­achtungen bekräftigten Eindruck, daß es ihm suspekt erschien, in eigener Person mit jener zweiten Nation in Verbindung gebracht zu werden, die sich jenseits des dritten Standes und des Hamburger Tores konzentrierte. Dazu paßt es, daß er dem Spandauer Viertel, wo die Große Hamburger Straße lag, ein für allemal den Rücken kehrte, als er sechzehnjährig die Gewerbeschule verließ; die vier Berliner Apotheken, in denen er gearbeitet und gehaust hat, und die vielen Wohnungen, die er bezog und wieder wechselte, liegen sämtlich in anderen Teilen der Stadt. 18 In Fontanes Memoiren setzt sich das Personal des Mietshauses, wohin er mit seinem Onkel August verschlagen wurde, aus lauter Deklassierten zusammen. So entspricht es zwar nicht den Tatsachen, aber desto mehr der Form, in der er selbst während seiner Jugend von den sozialen Gegensätzen betroffen wurde. Er war in Person vom Verlust des gesell-

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