Heft 
(1986) 41
Seite
301
Einzelbild herunterladen

Blattgründungsplan, womit man in solchen Nöten gemeinhin so rasch bei der Hand ist wie mit Chinin, wenn einer das Fieber hat, verwerfe ich mit fester Überzeugung, weil kein Blatt bestehen kann, das auf literarische Amateurschaft angewiesen ist.®'

Fontane hatte es natürlich schwer, sich von der mangelnden Produktivität der Berliner literarischen Verhältnisse zu überzeugen, aus denen er hervor­gegangen war, oder zu bemerken, daß dasRütli insofern weniger eine Ausnahme als vielmehr den Bestandteil eines unbefriedigenden Gesamt­zustands bildete. Sein antipodischer Altersgenosse Gottfried Keller, der in der norddeutschen Residenz zwischen 1851 und 1855 die höchste Entfaltung seiner schöpferischen Kräfte erlebte und mit dem Städtchen Seldwyla hier seine schweizerischste Erfindung machte, litt nicht unter solchen Befangenheiten. Ein vorübergehender Aufenthalt in Berlin, so befand der Sohn des freien Zürich, sei auch fürkünstlerische und andere Seiltänzer­naturen gut, während ein dauernder zur Impotenz führe, und dies nicht bloß wegen der verfluchte(n) Hohlheit und Charakterlosigkeit der hie­sigen Menschen. Ihm wird das Alpenland vor Augen gestanden haben, als er feststellte:Die märkische Landschaft hat zwar etwas recht Ele­gisches, aber im ganzen ist sie doch schwächend für den Geist; und dann kann man nicht einmal hinkommen, da man jedesmal einen schrecklichen Anlauf nehmen muß, um in den Sand hineinzuwaten. Ich bin fest über­zeugt, daß es an der Landschaft liegt, daß die Leute hier unproduktiv werden. Ich sagte es schon hundertmal zu hiesigen Poeten, die sich domi­ziliert haben, und sie stimmen alle ein und schimpfen womöglich noch mehr als ich; aber keiner weicht vom Fleck, lieber sterben sie elendiglich auf dem Platze, ehe sie von dem verfluchten Klatschnest Weggehen. 41 Märkische Heide und märkischer Sand müssen seit FontanesWande­rungen nicht mehr in Schutz genommen werden. Es läßt sich auch an den Weggang des alteingesessenen Berliners Willibald Alexis erinnern, der 1852 nach Arnstadt übersiedelte, an Melchior Meyr, der nach langem Aufenthalt im selben Jahr nach Süddeutschland zurückkehrte, oder an Heyse, der 1854 einem Ruf nach München folgte. Aber in der Hauptsache ist Keller schwer zu widersprechen. Das Mißverhältnis zwischen der literarischen Betriebsamkeit und den künstlerischen Ergebnissen blieb auch während der fünfziger Jahre eklatant, und das Wenige, was in der Stadt über den Tag hinaus an Bemerkenswertem hervorgebracht wurde, stammte tatsächlich von Autoren, die sich hier nur zeitweilig aufhielten. Die Literaturgeschichte nennt außer Keller selbst nur den unbekannten Anfänger Wilhelm Raabe, der von seinen beiden Berliner Studienjahren schon nach Wolffenbüttel zurückgekehrt war, als 1856 dieChronik der Sperlingsgasse herauskam. Es vervollständigt nur das Bild, wenn die Stadt unter den lokalen Zentren, zwischen denen die Debatte um den zeitgenössischen Realismus ausgetragen wurde, nicht genannt wird. 42 Auf engem Raum war hier für die Zeitgenossen dasunegale Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion, z. B. zur künstlerischen 43 , mit Händen zu greifen, und ebenso die Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der verschiedenen Kunstzweige. Karl Gutzkow, der in der Stadt auf­gewachsen war, berichtete 1854 nach einem Besuch:

301