Heft 
(1986) 41
Seite
302
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Die Zunahme Berlins an Straßen, Häusern, Menschen, industriellen Unternehmungen aller Art ist außerordentlich. Auf Stellen, wo ich mich entsinne, mit Gespielen im Grase gelegen und an einer Drachenschnur gebändelt zu haben, sitzt man jetzt mit irgendeiner Dame des Hauses, trinkt Tee und unterhält sich über eine wissenschaftliche Vorlesung von der Singakademie her. Wo sonst die blaue Kornblume im Felde blühte, stehen jetzt großmächtige Häuser mit himmelhohen geschwärzten Schorn­steinen. Die Fabrik- und Gewerbetätigkeit Berlins ist unglaublich. Bewun­derung erregt es z. B., einen von der Natur und vom Glück begünstigten Kopf, den Maschinenbauer Borsig, eine imponierende, behäbige Gestalt, in seinem runden Quäkerhute in einer kleinen Droschke hin und her fahren zu sehen, um seine drei großen, an entgegengesetzten Enden der Stadt liegenden Etablissements zu gleicher Zeit zu regieren. Borsig beschäftigt 3000 Menschen in drei verschiedenen Anstalten, von denen das große Eisenwalzwerk bei Moabit eine Riesenwerkstatt des Vulkan zu sein scheint. Es kommen dort Walzen von 120 Pferdekraft vor. Borsig baut gegenwärtig an der fünfhundertsten Lokomotive. Man berechnet ein Kapital von sechs Millionen Talern, das allein durch Borsigs Lokomotiv- bau in Umsatz gekommen ist. Es macht dem reichen Manne Ehre, daß er sich von den glücklichen Erfolgen seiner Unternehmungen auch zu der­jenigen Förderung der Kunst gedrungen fühlt, die im Geschmack Berlins liegt und dem Könige in seinen artistischen Unternehmungen sekundiert. Er hat sich eine prächtige Villa gebaut und pflegt einen Kunstgarten, der schon ganz Berlin einladen konnte, die Victoria regia in ihm blühen zu sehen/* 4

Der Großunternehmer tritt hier nicht bloß als Akteur der industriellen Revolution und der Hochkonjuktur auf, in der sich die Bourgoisie nach der verratenen Märzrevolution für ihre staatspolitische Machtlosigkeit schadlos halten konnte. Er wird von Gutzkow zum Herrscher in seinem neuen Reich stilisiert kein Wunder, daß er es dem Monarchen im Repräsentationsbedürfnis und in der Förderung der repräsentativsten unter den Künsten nachtut. Bei den Baumeistern, aber auch in den Ateliers der bekannten Bildhauer herrschte Hochbetrieb, und in der Königlichen Oper begann die zweite Blüte des Balletts, während das Schauspiel nicht ohne darstellerischen Glanz zu entfalten zur Bedeutungslosigkeit absank.

Die Gründe, aus denen Fontane 1852 und 18551859 nach London ging, wurden ihm nicht durch die Situation der Künste eingegeben; sie waren von der schönen Literatur ganz abgesehen durch die Notwendigkeit diktiert, sich, nachdem er geheiratet hatte, eine berufliche Existenz auf­zubauen. Deswegen faßte er zeitweilig sogar den Gedanken, sich in der britischen Metropole niederzulassen. Und kaum, daß er wieder zurück war, sah man ihn in München, um Maximilian II. aus seinen Balladen vorzulesen. Wäre es nach dem Wunsch Paul Heyses gegangen, der ihm helfen und ihn in den Dichterkreis nachziehen wollte, den der bayrische König um sich sammelte, dann hätte ihm daraufhin eine Stellung in der unmittelbaren Umgebung des Monarchen übertragen werden sollen. 45