Heft 
(1986) 41
Seite
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war er sich bewußt:Es ist mir im Laufe der Jahre, besonders seit meinem Aufenthalte in London, Bedürfnis geworden, an einem großen Mittelpunkte zu leben, in einem Zentrum, wo entscheidende Dinge geschehn. Wie man auch über Berlin spötteln mag, wie gerne ich zugebe, daß es diesen Spott gelegentlich verdient, das Faktum ist doch schließlich nicht wegzuleugnen, daß das, was hier geschieht und nicht geschieht, direkt eingreift in die großen Weltbegebenheiten. Es ist mir Bedürfnis geworden, ein solches Schwungrad in nächster Nähe sausen zu hören, auf die Gefahr hin, daß es gelegentlich zu dem bekannten Mühlrad wird. 55 Fontanes berufliche, schriftstellerische und politische Wendung zu Beginn der sechziger Jahre war so tiefgreifend, daß eine Zwischenbilanz an­gebracht ist. Mit Vierzig so läßt sich resümieren verfügte er über einen ungewöhnlich ausgedehnten Fundus sozialer Erfahrungen, von denen er zeitlebens zehren konnte. Es liegt nahe, dabei zuerst an England zu erinnern. Er habe London besser gekannt als Berlin, meinte er später; er lernte dort, im Horizont eines Weltreichs und in den Maßstäben einer Weltstadt zu denken, als es noch eine Ironie bedeutete, wenn jemand Berlin diese Bezeichnung beilegte. Aber seine Aneignung der überdimen­sionalen fremden Wirklichkeit unterschied sich von den heimischen Erfahrungen; sie brachte es gewöhnlich nicht zu der hochgradigen subjek­tiven Authentizität, die aus der eigenen unmittelbaren Betroffenheit hervorgeht. In London war erimmer bloß Zaungast 56 , ein Außenstehen­der selbst in den Räumen der preußischen Gesandtschaft, dessen Schick­sale sich nach wie vor in Berlin entschieden. In Berlin hing er von Jugend an auf Gedeih und Verderb von den Lebensverhältnissen ab, in die er versetzt war. Kein Zweifel, daß ihm die Sensibilität, mit der er auf diese Verhältnisse reagierte, von seiner gesellschaftlichen Zwischenstellung und ungewissen Zukunft eingeschärft wurde.

Er durchmaß in Berlin ein soziales Terrain, das sich zwischen dem Vogt­land und der Tiergartenvilla, der Grenadierkaserne und dem Ministerium, zwischen dem Bodenverschlag des Apothekergehilfen und dem Ehrenplatz erstreckte, den dasangebetete Haupt desTunnels einnahm. Seit er in die Gewerbeschule eingetreten war, lebte er in grundverschiedenen Milieus. In einer Beziehung blieb allerdings seine Lage unter allen Umständen dieselbe. Er ging in diesen Milieus, denen er durch teils massive, teils subtile Abhängigkeitsverhältnisse, vor allem durch Arbeits­verhältnisse integriert war, nicht auf. Im Einklang mit dem Selbstbild, das er von sich hatte, verstand er sich als Außenseiter, oder er war es durch seine soziale Position. Und er war erfolgreich in seinem Bemühen, sich entsprechende Ausnahmebedingungen zu schaffen. So stand seine Befindlichkeit im Zeichen eines Dilemmas von Integration und Desinte­gration, das Tag für Tag bewältigt sein wollte. Aus solchen Lagen lassen sich Einsichten erzielen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man hier die Wurzeln des unerschöpflichen Interesses sucht, mit dem er in der kritischen Reflexion und der literarischen Verkörperung immer wieder auf die gleichermaßen typischen und singulären Beziehungen zurückkommt, die sich zwischen den verschiedenen Lebensstellungen und der menschlichen Beschaffenheit desjenigen ergeben, der sie einnimmt.

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