Heft 
(1986) 41
Seite
308
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Es sollte ihm noch zustatten kommen, daß seine Erfahrungen auf poli­tischem und literarischem Gebiet den sozialen an Spannweite und vitaler Bedeutung nichts nachgaben. Sein Wirkungs- und sein Bekanntenkreis erstreckten und verlagerten sich im Laufe der Zeit von der äußersten Linken bis zur extremen Rechten. Dies war eine Folge des wiederholten Frontenwechsels, der ihn in Überzeugungskrisen und Selbstwertzweifel verstrickte. Er hatte nicht umsonst literarisch und praktisch an den revo­lutionären Kämpfen um die Macht im Staate teilgenommen und sich wenig später an der staatlichen Machtausübung beteiligt gesehen. Das geschah unter miserablen Umständen, war aber mit gehörigen Eindrücken vom Arbeiten des Apparats verbunden. Unter welchen Umständen im­mer bei den Umbrüchen, die vom Thronwechsel 1840 zum Heeres- und Verfassungskonflikt der ersten sechziger Jahre führten, hatte er mit­gehandelt.

Ähnlich intensiv vollzog er die Ablösungsvorgänge mit, die zwischen der Vormärzdichtung und dem nachrevolutionären Realismus stattfanden. Die Antinomie von Poesie und Leben, auf die er sich zurückgezogen hatte, hielt seinen Wirklichkeitserfahrungen nicht stand; in seinem Verhalten und Denken erlangte das Leben immer größeres Übergewicht; es ent­wickelte sich in den fünfziger Jahren zur zentralen Kategorie seines Literaturkonzepts. Nur folgerecht, daß eigene Pläne auftauchten, in denen die Lebensdarstellung er dachte zuerst ans englische, dann ans preu­ßische Volksleben, schließlich ans vaterländische Leben als erstrebens­werte schriftstellerische Aufgabe erscheint. In einem Brief an Paul Heyse fiel 1861 dann sogar die Andeutung:Über unser Berliner Leben, groß und klein, ließen sich selber wieder Bücher schreiben (und werden gewiß geschrieben werden), 57

Die Idee lag nahe, denn Fontane war mit den englischen Beispielen vertraut und schätzte vor allem ThackeraysVanity Fair, den Roman, mit dem er wie kein zweiter (...) das Londoner Leben vor dem Auge des Lesers erschließt 38 . Dennoch mußten anderthalb Jahrzehnte ins Land gehen, bevor er sich ernsthaft mit dem Entwurf eines vergleichbaren Berliner Romans befaßte (derAllerlei Glück heißen sollte, aber nicht zustande kam). Daran war nicht seine Option für die Berichtsform schuld, die schon seinen ersten Überlegungen zugrunde lag, denn in bezug auf die Darstellung des Lebens machte er zwischen ihr und der Romanform offensichtlich keinen kategorialen Unterschied. Auch seine Berichte von den Wanderungen bis zu den Kriegsbüchern befaßten sich in geradezu demonstrativer Ausschließlichkeit mit Gegenständen, die nichts mit dem modernen Berlin zu tun hatten. Seine Orientierung an den Traditionswerten eines ständisch und monarchisch verfaßten Preußen erlangte vorerst die Oberhand über die Faszination, welche eine Urbani­sierung großen Stils auf ihn ausübte.

Anmerkungen

1 ? 0 ? e i lb ? rn <= : Fontanopolis. In: Velhagen & Klasings Monatshefte Jg. 23,

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2 Theodor Fontane: Lindau. Der Zug nach dem Westen. In: Fontane. Sämtliche

Werke. Hrsg. v. Edgar Groß, Kurt Schmied, Rainer Bachmann, Charlotte Jolles,