wo Verfestigungen, Dogmatisierungen gleich welcher Provenienz die Vielfalt des Lebens, der gesellschaftlichen Realität einzuengen drohen. Fontanes Skepsis gegenüber Wagners Hang zur Ideologisierung, zur Propagierung einer „verkappten Religion“ 8 , die Ablehnung vor allem der wagnerianischen Sektenbildung, der Apostel, die „nicht müde werden, von ,neuem Evangelium', ,neuer Weltanschauung', ,neuem Lebensinhalt' etc. zu faseln“ 9 , wo doch im Fall des Wagnerschen Werks lediglich von Innovation der Dramaturgie und musikalischen Sprache die Rede sein sollte, ist eine Konsequenz aus der auch in einem Leben voller Widersprüche und „Hilfskonstruktionen“ durchgehaltenen Grundeinstellung Fontanes. Sobald jedoch der Antiwagnerianismus dogmatisch und dem einzelnen Werk gegenüber ungerecht zu werden droht, stellt sich Fontane auf die Seite Wagners: die Wahrheit ist konkret, nicht das Allgemeine, sondern das Besondere rückt in Fontanes künstlerischer und ethischer Wertordnung an die erste Stelle. Seine Verteidigung der ,Meistersinger' gegenüber dem konservativen Musikredakteur Otto Reinsdorff im Jahr 1873 wird insofern nur denjenigen verblüffen, der Fontanes Grundsatzentscheidung für eine undogmatische Kritik nicht zur Kenntnis nimmt. Reinsdorff wirft Wagner vor, gegen die Regeln des Dramas — im Sinne etwa Gustav Freytags — verstoßen zu haben; Fontane wendet eben diesen Vorwurf ins Positive: Wagners Werk sei interessant, weil in ihm die Regel durchbrochen und nicht ein Prinzip zu Tode geritten werde. Gerade dadurch, „daß die Liebesfrage zugleich zu einer Prinzipienfrage wird, ohne daß man von einer störenden Gedoppeltheit der Motive sprechen kann, dadurch kommt wirkliches Leben in die Sache, und dadurch wiederum wirkt sie erfrischend.“ 10
Auf den gesamten Umfang Fontanescher Wagner-Kritik kann ich im Rahmen dieses Vortrags nicht eingehen; ich darf auf die Publikation in dem Sammelband verweisen. 10a Bevor jedoch von der Art der Wagner- Adaption im Romanwerk die Rede ist, möchte ich folgende Punkte wenigstens nennen. Bereits 1840 ergibt sich eine eigenartige Nähe Fontanes und Wagners insofern, als beide noch jungen Autoren sich am balladesken und für den Vormärz typischen Stoff des „Fliegenden Holländers“ versuchen (Wagner ,Der Fliegende Holländer' bzw. Fontanes Ballade ,Das Gespensterschiff 1 ). Während Wagner in der Erlösung des als Synthese von Odysseus, Ahasver und Kolumbus gedeuteten Holländer durch das „Weib der Zukunft“ zu seinem eigentlichen Thema findet, verbleibt Fontanes Held Vanderdecken in der biedermeierlichen Beschränkung auf die Familie: die Ballade ,Das Gespensterschiff' erscheint inhaltlich wie formal als eine eher zufällige Etüde. Die relative Verspätung der Fontaneschen Wagner-Rezeption — der erste Beleg findet sich m. W. erst in einem Bericht aus London 1855 und ist sicherlich ein Reflex auf Wagners im selben Jahr absolvierten Londonbesuch — hängt wohl vor allem mit der stets einbekannten Distanz Fontanes zur Musik zusammen; besonders „große Musikaufführungen“, wie die Oratorien in der Garnisonkirche 1840, für die er Billete verkaufte, machten Fontane zeitlebens „schläfrig“ (,Von Zwanzig bis Dreißig'; HFA III,4 S. 191 f). Wenn Fontane davon spricht, sein Auge sei fortschrittlich, es hasche nach dem Neuen, aber das Ohr
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