Ablehnung Mendelssohns mußte jedoch auch Gade schließlich dem Verdikt verfallen, weniger durch Wagner selbst als durch seine Anhänger. So ist auch für Wrschowitz der Däne „Inbegriff alles Trivialen und Unbedeutenden“, der Klavierlehrer promoviert, um ja den gehaßten Vornamen nicht mehr in Erscheinung treten lassen zu müssen, ja er dehnt seine Idiosynkrasie auf alles Skandinavische schlechthin aus — eine Pointe, die möglicherweise auf den Antagonismus Ibsen - Wagner bzw. „Freie Bühne“ — Bayreuth gemünzt sein könnte. Sicher ist Wrschowitz — wie Hans-Heinrich Reuter sagt — eine „Karikatur“; das heißt jedoch keineswegs, daß Fontane ihn und seinen Wagnerismus deshalb pauschal ablehnte. 53 Der alte Barby schätzt Wrschowitz, weil er trotz seiner Schrullen fein und gebildet und „weil er anders ist wie andre“. 54 Sein Haß gegen das „Sentimentalle“ 55 , den Woldemar ausdrücklich teilt, verbindet ihn durchaus mit Fontane, ebenso seine Apologie von „Frondeurs“ 56 und die
— freilich extreme und einseitige — Neigung zur „Krittikk“. 57 Daß Wrschowitz — übrigens ein Verehrer Fritz Reuters wie Fontane 58 — fasziniert auf die Erzählung Woldemars von den vornehmen „Weltbeziehungen“ des Stechlin-Sees reagiert, spricht ebenfalls für ihn, zumal wenn man sich vergegenwärtigt, daß Fontane gegenüber Carl Robert Lessing ausdrücklich den See als „Leitmotiv“ für den Roman bezeichnet. 59 Der Begriff des „Leitmotivs“, den Fontane fälschlicherweise als direkt von Wagner stammend ansieht, wird von ihm übrigens seit Beginn der achtziger Jahre benutzt — unspezifisch, meist als Synonym für „Grundidee“. Er folgt darin einem modischen Trend, der 1876 mit den ersten Bayreuther Festspielen einsetzte.
,Der Stechlin“ endet im milden Licht eines humanen Sozialpakts; das Elementare im Symbol des Stechlin-Sees bleibt als ewige Möglichkeit erhalten, es beherrscht aber nicht das Leben der Gesellschaft. Fontane verweist hier — bei aller Anerkennung der untergründigen Potenz des Triebhaften, die zur gleichen Zeit von Sigmund Freud analysiert und bereits Jahrzehnte früher von Wagner im Musikdrama intuitiv zur Sprache gebracht wurde — auf eine Möglichkeit der Sublimierung: nämlich auf die soziale Ausstrahlung individueller Liebe. Das Wir-Gefühl tritt an die Stelle der Ich-Bezogenheit.
Fontanes Alterswerk läßt sich der großen englischen, russischen und französischen Romandichtung des 19. Jahrhunderts als „literarisch-gesellschaftskritische, soziale Welt“ zuordnen. Diesem „europäischen“ Beitrag zur „Monumental-Kunst des neunzehnten Jahrhunderts“ stellt Thomas Mann in seinem Vortrag zur Züricher Aufführung des ,Rings“ 1937 die Musikdramen Wagners als spezifisch „deutschen“ Beitrag gegenüber. 60 Mit dem Begriff „deutsch“' hat Thomas Mann bereits 1910 „das ahndevoll Musikalische, das brünstig Metaphysische“ umschrieben. Es ist die Welt der deutschen Romantik von Novalis bis Eichendorff und E. T. A. Hoff- mann, die hier angesprochen wird. Fontanes Romantikbegriff dagegen ist
- nach Thomas Mann - romanisch geprägt, nämlich „eine Cyrano-de- Bergerac-Romantik, die unter Versen ficht. Auch schauerliche Motive, auch Tower und Richtblock für heiße Verfehlungen, kommen darin vor. Aber ihr Grundwesen ist Rationalismus, ist heiterer Geist und freie Sinn-