Issue 
(1880) 38
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Kuno Fischer in Heidelberg.

ihn nichts mehr ungiltig und rückgängig machen kann. Ein solcher Durch­bruch ist eine refor matorische That, durch viele angestrebt, durch den Entwicklungsgang der gestimmten Nation bedingt, durch einen einzigen entschieden. Denn sie erfordert allemal die eminente persönliche Kraft. Ein Jahrhundert lang hatte die christliche Welt des Abendlandes nach einer Erneuerung und Umbildung ihres religiösen und kirchlichen Lebens getrachtet, bis im Anfänge des sechszehnten Jahrhunderts die deutsche Reformation durchbrach und sich in dem gewaltigen Luther personificirte. Von den An­fängen des dreißigjährigen bis zu denen des siebenjährigen Krieges hat unsere deutsche Literatur und Dichtung, ihrer glorreichen Vergangenheit fast vergessen, wieder nach einer nationalen Höhe gestrebt, bis endlich die zwischen unserem Leben und unserer Poesie aufgethürmten Schranken fielen und die Reformation auf diesem Gebiete sich Luft machte. Der Mann, durch dessen eminente persönliche Kraft diese That vollbracht wurde, ist Gotthold Ephraim Lessing, der Gegenstand dieser Darstellungen, die ein so ge­waltiges und vielseitiges Thema innerhalb der gemessenen Grenzen unmöglich erschöpfen können und sich daher die Aufgabe gestellt haben, von einem dem nationalen Bewußtsein nnd der allgemeinen Bildung nächst gelegenen Gesichts­punkte aus die Bedeutung des Mannes zu schildern.

Wir sehen in ihn: den Reformator unserer Literatur, insbesondere den unserer dramatischen Poesie und Lebensanschauung. Hätte Lessing nicht die Kraft gehabt, auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, das Bild des Lebens umzuwandeln und von hier aus dem Körper der Zeit den Spiegel vorzuhalten, so würde er auch nicht aus den Gebieten der wissenschaftlichen und gelehrten Literatur, dem ästhetischen, philosophischen, theologischen u. s. s., jene Stärke besessen haben, die jede seiner Spuren, wo er nur austrat, un- vertilgbar gemacht hat. Denn es kommt in der Reformation geistiger Objecte nicht blos aus das an, was man sagt und lehrt, sondern wie mau es sagt, auf den persönlichen Charakter voller Klarheit und Energie, der jedes Wort durchdringt und demselben die unwiderstehliche Kraft mittheilt; auch ist es noch nicht genug, daß man auf die beste Art erklärt und vor­schreibt, wie die Dinge geschehen sollen und umzugestalten sind: man muß selbst Hand an das Werk legen und thun, was man sagt. Das thatlose Wort bewegt die Dinge nicht von der Stelle. Die Reformation des Dramas will nicht blos in der Aesthetik und in der Lehre von der Dichtkunst, sondern aus der Bühne selbst geschehen; wer hier umgestaltend wirken will, muß neue Dramen Hervorbringen, neue Lebensanschauungen in diesem mächtigsten und populärsten aller Kunstwerke verkörpern. Dies vermochte und that Lessing. Es ist leicht zu sagen, welche seiner dramatischen Dichtungen diese reformatorische Bedeutung haben: die nationalen und populären, die jedermann kennt, die unvergessenen und unvergeßlichen, die im Geiste unseres Volkes ein festes, unentbehrliches Besitzthum geworden sind und in ihm sortleben und fortwirken . werden, so lange es athmet. Es sind die Stücke, in denen unsere neuen