Issue 
(1880) 38
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- Ueber G. L. Lessing. -

und nationalen Zeit- und Lebensanschauungen in der Form des Lustspiels, des Trauerspiels, desdramatischen Gedichts" sich ausgeprägt haben: Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan der Weise.

Als ich mir nun die Ausgabe stellte, Lessings Bedeutung von einem, dem nationalen Gesühl und der allgemeinen Bildung nächst gelegenen Gesichts­punkte aus zu schildern, konnte cs mir nicht zweifelhaft sein, welche Themata ich ergreifen müßte, um nicht blos ein abgerissenes Stückwerk zu geben. Lessing hat seine nationalen Wirkungen hauptsächlich durch seine dramatischen Lichtungen errungen: durch die drei, die ich genannt habe, und deren jede

in ihrer Art einen reformatorischen Charakter trügt. Darum muß ich vor allem Lessings reformatorische Bedeutung in unserer Literatur überhaupt in's Auge fassen.

II.

Jedes reformatorische Werk ist die Lösung einer Zeitaufgabe, einer solchen, die den Gang der Tinge unterbricht, die Zeiten scheidet, die her­kömmlichen und ausgelaufenen Richtungen abschließt, neue eröffnet und die vorhandenen Bildungsformen dergestalt umwandelt, daß, um es kurz und treffend zu sagen, die Natur der Sache wie neugeboren aus der Natur des Menschen hervortritt.

Auf die religiöse Natur und den Ursprung des Christenthums, auf seine geschriebenen Urkunden in der Bibel und die ungeschriebenen im menschlichen Herzen stützte sich unsere kirchliche Reformation. Als ein Jahrhundert später die Zeit zur Begründung einer neuen Philosophie gekommen war, forderte man die unbefangene vorurtheilsfreie Erkenntniß der Dinge durch die mensch­liche Vernunft und die freie Selbstthätigkeit ihrer Kräfte: die richtige

Sinneswahrnehmung und das klare Denken. Dort sollte der religiöse Glaube, hier die natürliche Erkenntniß aus ihren ursprünglichen und einfachen Be­dingungen erneuert und gleichsam wiedergeboren werden. In dieser Art normaler Herstellung lag die reformatorische That. Nachdem sie geschehen und in ihren Folgen ausgeführt war, mußte eine neue Aufgabe eintreten: die Prüfung jener Grundlagen, auf die sich in dem einen Fall die Refor­mation der Kirche, in dem anderen die der Philosophie gegründet hatte; dort sollten die Quellen des Glaubens, hier die der Philosophie untersucht werden. So geschah es. Die letzte Epoche der Philosophie- die größte, die sie seit Sokrates erlebt hat, besteht in dieser Untersuchung und Ent­deckung. Unsere natürlichen Vernunftvermögen sind die einzigen Quellen menschlicher Erkenntniß: sie sollen nicht Größeres leisten wollen als sie leisten können, sonst wird die Wahrheit verfehlt und unechte Vorstellungen zu Tage gefördert. Daher mußten unsere Vernunstkräfte, jede in ihrer Eigenart, Leistungsfähigkeit und Tragweite, sorgfältig geprüft und ansgemessen werden, damit man wisse, worin das Vermögen der menschlichen Natur besteht: ihr Erkenntniß- und Wahrheitsvermögen. Diese Prüfung nannte man die Kritik