Arbeitsweise Fontanes offen. Auf der anderen Seite ist eine so materialreiche Untersuchung aber auch geeignet, die Vorstellungen von den Bildungstraditionen des Dichters zu erweitern und den Respekt vor der eminenten Anverwandlungskraft Fontanes zu erhöhen. Bedenken zur Methode der Arbeit treten hinter die Anerkennung der Leistung Bindokats zurück, zumal die Darstellung der Aneignung der einzelnen Motive stets mit gesellschaftkritischen Konsequenzen verbunden ist. Die Untersuchung gipfelt in der Carakterisierung eines neuen, emanzipatorischen Menschenbildes in „Effi Briest“. Die Romanheldin wird als Vorstoß zu einem antiasketischen, sensualistischen Menschenbild und zu einem dionysischen Lebensgefühl gewertet.
Die Forderung des alten Briest nach Liebe der Eltern zu ihren Kindern wird als progressive Umkehr christlich-patriarchalischer Satzungen gewürdigt. Fontane erscheint in der Nachfolge Goethes und Heines als „moderner Heide“, als objektiver Feuerbachianer und damit auch als Überwinder Schopenhauers. Die Arbeit Bindokats, die sich bisweilen in Exkurse über einzelne Motive und ihre Vorgeschichte zu verlieren droht, erfährt am Schlüsse doch noch Steigerung und Abrundung.
Demgegenüber konzentriert sich Hamann ganz auf den Text des Romans und seine unmittelbaren Voraussetzungen. Sie verfolgt das Ziel, durch „umfassende und zugleich systematisch detaillierte Untersuchung“ des Romans, „in der sowohl geringfügige .Beziehungen 1 als auch subtile sprachliche Schattierungen und Nuancen ihren Ort in einem allgemeinen Zusammenhang finden“, eine „Forschungslücke“ zu schließen (S. 9, ferner S. 30). Die Grundlage dafür ist eine verblüffende Werkgegenwärtigkeit und die Orientierung auf neueres und neuestes erzähltheoretisches Material (zu dem auch Arbeiten von Manfred Naumann und Robert Weimann gehören). Das Resultat ist eine erstaunlich komplexe und zugleich differenzierte Analyse. Es gelingt eine wissenschaftlich-analytische Durchdringung des Romans als gegliederte Totalität, innerhalb deren sich die Interpretin sicher bewegt.
Die Textanalyse ist produktionsorientiert, ohne die Rezeptionsfrage völlig zu vernachlässigen. Die „Leitfrage für die Analyse“ lautet: „Wie hat wer unter welchen Bedingungen was geschaffen, um welche Wirkung zu erzielen?“ (S. 41). Ehe sich die Untersuchung der fiktiven Erzählwelt zuwendet, werden der „Autor als historische Person“ und die „Erzählkonzeption des realen Autors“ betrachtet. Die analytische Einschaltung einer rekonstruierten Phase der „Bereitstellung des Erzählkonzepts“ trägt der gedanklichen Arbeit des Schriftstellers an den Stoffgrundlagen angemessen Rechnung. Sie ist eine zusätzliche Garantie für die prozeßhafte Erfassung des Werkes und seiner Grundstruktur.
Innerhalb der Textanalyse geht es dann vor allem um Raum und Zeit, um die Figuren, um Komposition und Sprache, um den Erzählerstandort und -Standpunkt und um den fiktiven Adressaten. Gesamtergebnis ist, wie schon gesagt, eine beeindruckende differenzierte Entfaltung des Romans im wissenschaftlichen Abbild. An Einzelergebnissen seien hier hervorgehoben: die Skizzenhaftigkeit der Raumdarstellung, Aussagen zur
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