Figurendarstellung (Crampas als vorwiegend funktionelle Figur ohne eigentlich individuell-ästhetisches Eigengewicht, Bismarck als instanzen- haft ins Romangeschehen hineinwirkende Gestalt), die Ermittlung fließender Übergänge zwischen auktorialer und flguraler Erzählhaltung, zwischen den Ebenen des Beobachtens, Berichtens, Urteilens und Werfens. Widersprüche zwischen szenisch-dialogischer Darstellung und Handlungsarmut, zwischen der Freude des Erzählers am Gespräch der Figuren und Verschwiegenheit werden bewußt gemacht.
Am meisten überrascht die menschliche und ästhetische Abwertung von Crampas. Charakterlich erscheint er als individualistischer Rollen- und Zitatenmensch, der erst im Tode zu sich selber komme. Ästhetisch wird ihm eine „weitgehende Negativ-Konzeption“ (S. 211 f.) im „Normenkonflikt“ (S. 348) zugedacht (vgl. dazu ferner S. 334, 411, 426, 480). Diese Sichtweise überrascht im Vergleich mit Bindokat (und anderen), die Crampas in die Nähe des Dichters rückt. Sie widerspricht auch der Auffassung von der allseitigen Aufmerksamkeit Fontanes für seine Gestalten Das umfangreiche Buch liest sich gut. Seine sprachliche Eleganz ist sicherlich die Folge wiederholter wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Roman (so hatte Hamann bereits vorher eine Interpretation von „Effi Briest“ für die Schule veröffentlicht), aber sie ist vielleicht auch Ausdruck einer gewissen Neigung zur Unverbindlichkeit. Es liegt keine werkimmanente, mitgehende Interpretation vor; dennoch liegen im Historischen Grenzen. Beim freilich kurzen Abriß über die Geschichte der Fontane- Rezeption würde Rez., namentlich im Hinblick auf die 50er Jahre, andere Akzente setzen. Einprägsame Historizität, die Parabelhaftigkeit nicht ausschließen muß, ist bei der Textinterpretation kein hervorstechendes Element. Der „Raum“ wird mehr ästhetisch als sozialhistorisch gesehen. Die Abschnitte über den gesellschaftskritischen Gehalt und über den Erzählerstandpunkt wirken bisweilen wenig eindringlich. Der „Konflikt zwischen individuellem Glück und gesellschaftlicher Norm“ erscheint gelegentlich als ewiger Konflikt (S. 456, 472).
Mit diesen Arbeiten liegen zwei Untersuchungen vor, die sich methodisch und gehaltlich unterscheiden und zugleich ergänzen. Bindokat tritt von außen an das Werk heran und entdeckt neue stofflich-motivische Grundlagen, die vom Dichter offenbar souverän und versteckt dem Werke einverleibt wurden. Hamann schließt es vor allem textintern auf. Beide Untersuchungen demonstrieren den bedeutsamen menschlichen Gehalt des Romans und seinen eminent dichterischen Charakter.
Literaturgeschichtliche Einordnung spielt nur eine Nebenrolle. Bindokat kennzeichnet Fontane gleichsam als dichterisches Kollektivwesen und stellt „Effi Briest“ auch wegen der ästhetischen Geschlossenheit in nachklassische Tradition. Hamann rückt „Effi Briest“ wegen der zugespitzten Moralproblematik und wegen der hohen künstlerischen Stilisierung von thematisch verwandten Werken Fontanes und anderen Ehebruchsromanen des 19. Jahrhunderts ab. Damit wäre die „Effi-Briest “-Analyse Helene Herrmanns, die von Elsbeth Hamann in ihrem Forschungsbericht (S. 18 f.) im wesentlichen positiv gewertet wird, weitergeführt.
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