Rainer Kolk: Beschädigte Individualität. Untersuchungen zu den
Romanen Theodor Fontanes. — Diss. Bielefeld 1984
(Die Arbeit erscheint voraussichtlich 1986 im Druck.) [Autorreferat]
Die hier anzuzeigende Arbeit unternimmt dem Versuch, unter Aufnahme geeignet erscheinender sozialisationstheoretischer und sozialpsychologischer Konzepte das in den Romanen Theodor Fontanes vorhandene Wissen über die Formen und Veränderungen menschlicher Subjektivität zu bestimmen. Entsprechende gesellschaftsgeschichtliche Studien zeigen, daß sich mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tiefgreifende Wandlungen in den Prozessen der primären wie außerfamilialen Sozialisation vollziehen. Weit ausgreifende Modifikationen des Alltagslebens, der beruflichen Anforderungen und Perspektiven, des städtischen Zusammenlebens als Folgen der Gleichzeitigkeit differierender Produktionsweisen bewirken einen gravierenden Strukturwandel der Subjektivität. Dieser Befund formuliert eine historische Perspektive für die Untersuchung der psychischen Disposition Fontanescher Romanfiguren. In „Ellernklipp“ wird die Dysfunktionalität eines Persönlichkeitstyps demonstriert, der die familial und gesellschaftlich geforderte Disziplinierung der Subjektivität in Richtung auf Arbeitsdisziplin und Flexibilisierung des Leistungsvermögens nur unzureichend ausgebildet hat Dem entsprechen in „Graf Petöfy“ und „Stine“ Versuche, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie das der Sexualität zu isolieren und rationaler Planung zu unterwerfen. Die Biographien der betroffenen Figuren zeigen, daß sich psychosomatische Störungen, Depressionen, Affekthemmung und Suizid aus solchen Restriktionen herleiten. Die gesellschaftliche Dicho- tomisierung von ,sinnlicher 1 versus ,reiner 1 Frau unterwirft einzelne Individuen zudem Anweisungsstrukturen, deren Reichweite allen Beteiligten unklar bleibt; die Kränklichkeit der Frauen und ihr schwaches Selbstbewußtsein provozieren Ehekonflikte und Duelle („Cecile“, „Effi Briest“).
Die Analysen der Romane Fontanes erweisen, daß die in zahlreichen Gesprächen proklamierte Autonomie des Bürgers massiv illusorisch ist. Besonders in den Biographien der zentralen Frauengestalten zeigt sich, daß bereits die familiale Sozialisation die Individuen keineswegs auf zukunftsorientiertes, selbständiges Handeln vorbereitet. Im Gegenteil werden Cecile, Effi Briest und Waldemar von Haldern in ihren Familien zur Übernahme von Rollen gezwungen, in denen Enttäuschungen der Eltern kompensiert werden sollen. Als Folge einer solchermaßen reduzierten Identitätsbildung sind die Personen situativen Einflüssen ausgeliefert. In „Mathilde Möhring“ entspricht dem die weitgehende Adaption der Titelfigur an die Erfordernisse der materiellen Reproduktion, die durch ärmliche Lebensumstände zum zentralen Motiv des Verhaltens wird.
In „Grete Minde“ wird ergänzend dargelegt, wie eine schizophrene Disposition aus den Defiziten des Familienlebens entsteht; es handelt sich bei dem psychotischen Ausbruch der Titelfigur am Ende der Erzählung
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