Heft 
(1986) 41
Seite
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allerdings um den einzigen Fall einer geistigen .Erkrankung 1 . Die anderen Romane konzentrieren sich auf die Diskussion .durchschnittlicher' psy­chischer Verfassungen, die im Alltagsleben nicht als .krank' klassifiziert werden.

Die pathogene Qualität der von vielen Figuren erlebten Kommunikation in der Familie wird in den von Fontane beschriebenen Suizidfällen besonders deutlich. Sie sind Konsequenzen eines Zerfalls der Alltagsorga­nisation, den die Personen sich als individuelles Fehlverhalten anrechnen; es entstehen Schuldgefühle (Cecile), Depressionen (Unwiederbring­lich) und narzißtische Kränkungen (..Graf Petöfy,Schach von Wuthe- now). Mit dieser Reaktion vollziehen die Figuren nach, was die gesell­schaftliche Diskussion ihnen vorgibt: Fehlverhalten resultiert aus einer .Charakterschwäche', für die das Subjekt allein verantwortlich ist. Die in der Erziehung und der aktuellen Lebenswelt der Personen auffindbaren Deformationen werden den Betroffenen als gesellschaftlich produzierte nicht bewußt.

Prägnant zeigt sich diese Verlagerung in das einzelne Individuum an den .Melusinen', einem in der Fontane-Forschung favorisierten Motiv­komplex. Die Analysen der betreffenden Frauenfiguren ergeben, daß mit diesem Prädikat keineswegs natürliche, quasi-mythische Persönlichkeits­merkmale, sondern vielmehr Stereotypisierungen beschrieben werden, welche auf vorgegebene Handlungserwartungen verweisen.

Die für ein eingeschränktes Alltagsbewußtsein charakteristischen Mecha­nismen der Konfliktabwehr werden inIrrungen, Wirrungen und Stine beschrieben. Obwohl die Figuren gravierende Beeinträchtigungen ihrer Glücksansprüche erfahren, sind sie der Reflexion auf die ent­sprechenden Ursachen unfähig. Vielmehr wird den erlebten Enttäu­schungen emphatisch Sinn zugewiesen, der in der hypostasierten .Ordnung' der Ehe bestehen soll, die doch faktisch als unbefriedigend empfunden wird. Ähnliche Reduktionen von Konflikten finden sich in den Bemer­kungen über Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Konventionen.

Auf die vielfältigen Adaptionszwänge reagieren die Individuen mit gesteigerter, allerdings diffus bleibender Angst, deren Konsequenz hek­tische Betriebsamkeit (Mathilde Möhring), Verbrechen (Unterm Birn­baum) und Neurose (Elfi Briest) sind. Den Gegenpol verkörpern Figuren, die sich durch gesellschaftlich akzeptierte Merkmale auszeich­nen. Für ihre Anpassungsleistungen durch Affektkontrolle und .Charakter­stärke' werden die Figuren (Innstetten, Opitz, Rienäcker) mit system­konformen Entschädigungen versehen; allerdings stellen sich Momente von Gleichgültigkeit gegenüber diesen Gratifikationen ein. Andere Figuren wollen den Defiziten des Alltags durch Umstrukturierungsversuche begegnen, welche die bestehenden Abhängigkeiten zukünftig vermeiden sollen. Es zeigt sich, daß die Einbettung in vertraute Handlungsmuster die Ausbruchsversuche einholt und die Figuren auf nur leicht modifizierte Positionen zurückführt. Das Interieur, die Rituale und ein Großteil der Konversationen erweisen sich als Schutzräume, in denen die Individuen ihre gefährdete Identität zu stabilisieren suchen.

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