alles eigentlich Gefühlvollen gern aus dem Wege, so oft ihn der Stoff auch darauf hindrängt. Wie seine Gestalten es thun, verschließt auch der Dichter am liebsten sein Empfinden vor der Außenwelt; er glaubt am lautesten zu reden, wenn er am kürzesten schweigt. Etwas vom Geiste der Lessing'schen Kunst steckt in diesem Stil ; 19 er spricht nicht unmittelbar zu unserem Herzen, wie die Goethe'sche Poesie , 20 er hat nichts Hinreißendes an sich und entbehrt des Duftes und der eigentlichen Stimmung. Wir vermissen den mystischen Zauber, und nur über den Umweg des Verstandes wird unser Empfinden getroffen. Man müßte Dostojewski's .Raskolnikow' und Fontane’s .Quitt' hintereinander lesen . 21 Der Stoff beider Romane hat doch mancherlei Gleichartiges, aber in der Ausführung zeigen sich die schroffsten Gegensätze. Wie würde der Russe geschwelgt haben in der Darstellung der Bekehrungsszene des Fon- tane'schen Helden, wenn dieser aus der Ohnmacht erwachend, die Hände des Priesters der Mennonitengemeinde ergreift und küßt. Fontane bricht hingegen plötzlich ab und giebt uns die Szene selbst überhaupt nicht wieder. Wir erfahren von ihr nur aus dem Munde Dritter, und kennzeichnend ist es da wiederum, daß die Erzählung in den Mund eines ganz nüchternen philiströsen Ehepaares gelegt ist, welches von dem Ernst und der Größe der That nicht das Geringste versteht . 22 Da enthüllt sich gewissermaßen recht die märkische Natur Fontane's, die Furcht vor allem Mystischen, aller tiefer Ergriffenheit, das Bestreben, mit einem möglichst nüchternen Witz über die eigene Sentimentalität hinwegzuspringen. Noch aus der Behandlung verschiedener anderer Szenen, aus dem Wesen und der Eigenart der Gestalten des Romans selbst erklärt sich, daß der Dichter uns immer etwas nüchternpreußisch anmuthet und uns weder in Empfindung, noch in Stimmung voll Genüge leistet. Aber er bringt dafür Bilder von scharfer und brennender Anschaulichkeit, die uns oft jenen Mangel vergessen lassen. Einen Menschen stellt er mit wenigen Strichen dar, daß wir ihn lebendig-greifbar glauben vor uns zu haben, und eine Landschaft zeichnet er mit großer plastischer Kraft in allen ihren Formen ab. Im Bestimmten, Klaren und Hartumgrenzten offenbart sich sein Talent am stärksten, es scheitert an der Darstellung des Verworrenen und Verschwommenen, alles dessen, das weniger dem Verstände und der Beobachtung, als dem Gefühle und der Phantasie zugänglich ist."
Anmerkungen
1 Vgl. Fontanes „Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1359-1898/ Hrsg. v. Kurt Schreinert u. Gerhard Hay, Stuttgart: Klett 1972, S. 329; früher abgedr. in: „Briefe. Zweite Sammlung" [An die Freunde). Hrsg. v. Otto Pniower u. Paul Schlenther, Berlin: F. Fontane & Co. 1910, Bd. 2, S. 261/62; „Briefe in zwei Bänden/ Hrsg. v. Gotthard Erler, Berlin/Weimar: Aufbau 1968, Bd. 2, S. 288/89. Vgl. auch Anm, 14 unten.
2 Vgl. Schreinert/Hay, S. 547. Der Verlag pflegte Fontane regelmäßig Rezensionen über seine dort erschienenen Werke zuzuschicken; vgl. ebd. passim.
3 Demgemäß fehlt dieser Brief in der bisherigen Dokumentation bzw. Darstellung der Ent- stehungs- und Wirkungsgeschichte von „Quitt“; vgl. die Aufbau-Ausgabe (Berlin/Weimar 1969), Bd. 5, S. 622—31; die Hanser-Ausgabc (München, 2. Aufl., 1970) bzw. die Ullstein-Taschenbuchausgabe (Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976), Bd. 14, S. 252—66; „Dichter über ihre Dichtungen: Theodor Fontane/ Hrsg. v. Richard Brinkmann u. Waltraud Wiethölter, München: Heimeran 1973, Bd. 2, S. 394—411.
4 Vgl. Schreinert/Hay, S. 549. Übrigens kann die Jahreszahl 1877 nicht stimmen, da diese Zeitung erst 1881 gegründet wurde. Es handelt sich hier wahrscheinlich um einen Druckfehler, denn die Gebrüder Hart haben im Jahre 1887 die Theater- und Literaturkritik für die „Tägliche Rundschau" übernommen und bis 1901 verwaltet (vgl. Franz Brümmer, „Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart/
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