Peter Wruck (Berlin)
Fontanes Berlin (2. Teil, Fortsetzung von Heft 41)
Urbanisierung und Urbanität
Dennoch schloß er sich nicht der Auffassung von der Widernatürlichkeit der Verstädterung an, die bei Wilhelm Riehl 1853 in den Sätzen gipfelte: „Europa wird krank an der Größe seiner Großstädte. Die gesunde Eigenart Altenglands wird in London begraben, Paris ist das ewig eiternde Geschwür Frankreichs" 59 . Er blieb im Gegenteil bei seiner Überzeugung, daß sich von Hause aus der gesellschaftliche Fortschritt in den großen städtischen Gemeinwesen konzentrierte. In seinem Verhältnis zur Urbanisierung manifestierte sich ein Grundbestand geschichtlicher Anschauungen bürgerlich-liberalen Charakters, der genügend Stabilität besaß, um die politischen Standortwechsel zu überdauern.
In der Reiseliteratur war der Vergleich zwischen London und Paris nicht ungewöhnlich, der bei Riehl anklingt; neuere Stadtdarstellungen von Berlin oder Wien suchten sich hier ihre Bezugsgrößen.' 10 Nicht anders verhielt sich Fontane, als er 1856 von einem Urlaub in Berlin nach England zurückkehrte und in Paris Station machte. Er hatte Mühe, seine Voreingenommenheit gegen die Hauptstadt des zweiten Kaiserreichs zu überwinden; wie so oft schwankten seine Eindrücke und Meinungen, während seine Maßstäbe feststanden. Für ihn war London, nicht Paris die Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts. „Paris ist ein vergrößertes Berlin; London ist eben London und ist mit gar nichts andrem zu vergleichen. (.. .) Ja, da passier ich halbe Meilen lange Strecken, in denen man gar nichts sieht, aber das schadet auch nichts, ln den östlichen Vorstädten wohnen Hunderttausende von armen Leuten; sie sind nichts, sie haben nichts, aber wollen auch nichts scheinen. Man nimmt gar keinen Eindruck mit heim, weder einen schlechten noch einen guten; man weiß einfach, man hat eine halbe Stunde lang in einem Armdn- viertel zugebracht. Nur Schnapskneipen (und das ist allerdings ein Übelstand) hat man bemerkt. Kommt man nun aber nach der City, welche Gediegenheit da in dem ganzen Stadtteil, der die St. Pauls-Kirche umgibt! Die Kaufläden strotzen von Warenreichtum. Und nun in West End, in Oxford Street und Regent Street! alles funkelt von Gold und Silber, von Samt und Seide, und es funkelt so, daß man gleich merkt: haha, hier ist was dahinter. Kommt man dann in die wahrhaft noblen Quartiere, in das Westend des West Ends, so fällt die Buntheit der Läden fort; aber endlos ziehen sich nun die Wohnungen der reichen Leute hin. Man kann von diesen Wohnungen nicht behaupten, daß sie im einzelnen besonders schön oder imposant seien, aber ihr gemeinschaftliches Auftreten (20, 40, selbst 100 solcher Wohnungen bilden oft ein riesiges Ganzes, das nun aussieht wie das Berliner Schloß, nur oft noch mal so groß) erzeugt in dem Vorübergehenden die Vorstellung, daß er eine endlose Stadt von Palästen passiere. (.. .) Man stutzt schon, wenn man