gemeine „Armseligkeit der Zustände, die Beschränktheit und Unerbittlichkeit die Anschauungen, die gesellschaftliche Steifheit, die soldatische Präponderanz und diesem allen zum Trotz doch ein keckes Sichgeltendmachen des Persönlichen, eine gewisse Freiheitlichkeit, die der Freigeistigkeit noch vorausging“ 71 .
Die gewisse Freiheitlichkeit, die mit Aufklärung, nicht mit Demokratie in Verbindung zu bringen war, ging dann ein in den Grundbestand des „Ber- linertums" als der stadteigenen Mentalität, wie Fontane sie verstand und beschrieb. Diesem Wesenszug kam erhebliche Bedeutung zu, weil er in seinen Augen Berlin mit den maßstabsetzenden bürgerlichen Gemeinwesen wenigstens verknüpfte und es — kaum minder wichtig — von den anderen Residenzen unterschied, die der Absolutismus in den deutschen Einzelstaaten hinterlassen hatte. Ein Besuch der kurhessischen Hauptstadt forderte ihn 1871 zu der Feststellung heraus:
„Kassel gehört unter die Potsdamme der Weltgeschichte. Das Wesen dieser Potsdamme (. . .) besteht in einer unheilvollen Verquickung oder auch Nichtverquickung von Absolutismus, Militarismus und Spießbürgertum. Ein Zug von Unfreiheit, von Gemachtem und Geschraubtem, namentlich auch von künstlich Hinaufgeschraubtem, geht durch das Ganze und bedrückt jede Seele, die mehr das Bedürfnis hat, frei aufzuatmen als Front zu machen. (. . .) Ein gewisses Drängen herrscht in diesen der Louis XlV.-Zeit entsprungenen Städte vor, in die erste Reihe zu kommen, gesehen, vielleicht gegrüßt zu werden; vornehm und gering nehmen gleichmäßig daran teil und bringen sich dadurch, während der Hochmut wächst, um mit das Beste, was der Mensch hat: das Gefühl seiner selbst. Es kann keinen wärmeren Lobsprecher des richtig aufgefaßten .Ich dien' geben als mich; es ist ein C h a r a k t e r Vorzug, gehorchen zu können, und ein Herzens Vorzug, loyal zu sein, aber man muß zu dienen und zu gehorchen wissen in Freiheit. Man hat von den Berlinern gesagt, sie hätten alle .einen kleinen alten Fritz im Leibe' (beiläufig das Schmeichelhafteste, was je über sie gesagt worden ist); so kann man von vielen Klein-Residenzlern sagen: sie tragen den Hof marschall v. Kalb irgendwie oder irgendwo mit sich herum (. . .) Alles freie, individuelle Schaffen und Gestalten hört auf; die fürstliche Laune, der sich der Hofbaumeister bequemt, läßt überall Straßen für pensionierte Kammerdiener, im günstigsten Falle Schnörkelvillen für alte (oder auch junge) Hofdamen aus der Erde wachsen, und so entsteht dann jenes steife, parademäßige, mitunter hypersplendide, meist aber kärglich abgeknapste Bauwesen, das langweilt, halb trübselig, halb komisch stimmt und die recht eigentliche Kehrseite bildet von den Giebelhäusern, den .Rolands', den Gürzenichs, den Werften und Schiffen der freien Städte."
Tröstlich die Aussicht, „daß sich Kassel mehr und mehr in die Bremen und Lübecks hinein und aus den Potsdams herauswachsen wird" 72 Für die deutsche Hauptstadt galten andere, europäische Perspektiven. Fontane, der sich ohnedies Sorgen um die Stabilität des Kaiserreichs machte, war ungewiß, wie Berlin in sie hineinwachsen würde, denn es war seiner Meinung nach für die neue Rolle historisch weder vorbestimmt noch vorbereitet und hielt in der ersten Zeit keinem internationalen Vergleich stand. Die Einwände, die er infolgedessen gegen seine Stadt erhob, unterschieden sich manchmal
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