Heft 
(1990) 49
Seite
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wenig von den Argumenten des Schweizer Publizisten Victor Tissot, der ein geschworener Gegner des Bismarckreichs war. Tissot meinte 1875, das Zentrum des neuen Kaiserreichs trage weit weniger den Charakter einer Hauptstadt als Dresden, Frankfurt, Stuttgart oder München; alles, was Berlin seinen Besuchern zeige, sei modern und nagelneu und trage den Stempel dieser Abenteurermonarchie.Wenn man diese schnurgeraden Straßen durchlaufen hat, wenn man zehn Stunden lang nichts als Säbel, Helm und Federbusch gesehen hat, dann begreift man, warum Berlin, trotz des Ansehens, das ihm die letzten Ereignisse verliehen haben, niemals eine Hauptstadt sein wird wie Wien, Paris oder London" 73 .

Man versteht die Genugtuung, mit der Fontane nach dem ersten Jahrzehnt einen Teil seiner Zweifel fallenließ;Berlin hat sich ganz außerordentlich verändert und ist jetzt eine schöne und vornehme Stadt. Wir verdanken das allem Möglichen, aber doch weitaus am meisten dem Asphalt und den Pferde­bahnen (. ..) Alles ist Leben, Frische, Wohlgekleidetheit. Ich freue mich, diese vernobelte Zeit, an die ich kaum glaubte, noch erlebt zu haben. 1 ' 1 Aus der Sicht des Passanten, der sich in den geschäftigen Straßen und guten Gegenden aufhielt, ließ sich ähnlich wie vordem in London ein ungetrübtes Bild von den Fortschritten und Vorzügen der urbanen Lebensbedingungen entwerfen. In dieser Hinsicht wurden seine Erwartungen durch die Wirklichkeit bei weitem übertroffen, der zweifelnden und kritischen Einwände ungeachtet, die des öfteren wieder in ihm aufstiegen.

Was dagegen die Mentalität anging, die in der Stadt zu Hause war, erwarteten ihn Enttäuschungen, mit denen er sich zeitlebens nicht abfinden konnte. In seinen Reisefeuilletons aus dem besetzten Frankreich, wo er auf diePots­damme der Weltgeschichte" zu sprechen kam, erlaubte er sich bei passender Gelegenheit auch einen Exkurs nach Berlin, der zu erkennen gibt, welchen Vorstellungen er 1871 nachhing. Die schöne Blüte der Urbanität war es, die er sich von der Urbanisierung versprach, ein Wandel im Ton und in den Formen des Umgangs, den er an einem Orte vorfand, wo man nach landläufiger Über­zeugung darauf nicht gefaßt sein konnte. Bei den Berliner Gardeoffizieren, versicherte er, zeichne sich der Ton der Unterhaltung heutzutage durch eine gefällige Leichtigkeit" aus. Die Überreste der Empfindungs- und Anschauungs­weise, für die sie verrufen waren, seien längst in die kleinstädtischen Garni­sonen abgewandert. Aus welchem Grunde?Das großstädtische Leben ist es, das jeden, auch den Eitelsten, unerbittlich fühlen läßt: ich bin nur ein Sand­korn. Selbstsucht, Dünkel, Vorurteil mögen im einzelnen immer wieder dagegen ankämpfen, mögen innerlich ihre Triumphe feiern nach außen hin müssen sie schweigen. Aus der ständigen Konkurrenz gleichberechtigter Kräfte wird die Bescheidenheit geboren, bei dem einen wahr und ganz, bei dem andern wenigstens äußerlich, den Formen nach. Gleichviel dje feine Sitte, die Möglichkeit freien geistigen Verkehrs ist dadurch gegeben" 75 . Fontane bezog seine Zuversicht aus derselben Tendenz zur sozialen Nivellie­rung, die Wilhelm Riehl an den Großstädten beklagte, welche sich bei ihm wesentlich deutlicher als kapitalistische Ballungszentren darstellen;Hier verschwinden die natürlichen Unterschiede der Gesellschaftsgruppen; und die moderne Ansicht, welche neben reich und arm, gebildet und ungebildet keine , Stände' mehr kennt, ist hier mehr als Einbildung, sie ist eine von dem groß-

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