Heft 
(1990) 49
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städtischen Pflaster aufgelesene nackte Wahrheit" 70 . Allem Anschein nach neigte Fontane zu eben dieser modernen Ansicht und hieß die zeitgenössische Groß­stadt als denjenigen Ort gut, wo die feudalständischen Verhältnisse mit ihren angestammten Schranken und Borniertheiten ihre Bedeutung verloren. Dabei kam ihm entgegen, daß seine diesbezüglichen Beobachtungen, auch wo sie auf der Straße lagen, überwiegend dem Lebenskreis der besseren Gesellschaft entnommen und außer einer gewissen Veräußerlichung einer starken Ideali­sierung unterworfen waren.

Die Ernüchterung, die unter solchen Umständen nicht ausbleiben konnte, war Teil der Desillusionierungsprozesse, von denen Fontane in den siebziger Jahren ergriffen wurde. Während sich Berlin modernisierte, blieben die Groß- und Hauptstädter hinter seinem Verständnis der neuen Zeit, in die Preußen mit Deutschland eingetreten war, auf ihre Weise ebenso zurück wie das Staatswesen und das Junkertum auf die ihrige. Die Vorwürfe, die er stets aufs neue an die Adresse der Berliner richtete, das Mißfallen an ihnen, das ihn nicht selten überkam, liefen gewöhnlich darauf hinaus, daß sie es auch in den größeren Verhältnissen der Reichshauptstadt nicht zu jener Urbanität brachten, die sich in ihrer kümmerlichen Stadtgeschichte nur vereinzelt hatte ausbilden können.

Der Berliner als Typus und als Publikum

In einem wahrscheinlich um die Wende der siebziger Jahre entstandenen Ent­wurf, der dem unverwechselbaren und in Fontanes Ohren wenig erquicklichen Berliner Ton" gewidmet ist, brachte er diesen Zusammenhang auch zur Sprache. Dazu .reduzierte er das neue Berlin auf wenige Elemente:Eine Residenz mit einem Hof, einem Reichstag und einem Heuschreckenproletariat. Bürger hatte es nie und hat es noch nicht. Unter dem beständigen Zusammen­fluten neuen Rohstoffes, den Behörden überliefert, immer bevormundet, und vor allem in seiner ungeheuren Mehrzahl bis in die .hohen Stände' hinauf vor einer nur an dieser Stelle vorkommenden Bettelarmut, haben sich die Tugenden der Politesse, der Teilnahme, der Menschenfreundlichkeit, des Wohltuns nicht ausbilden können" 77 . Sein Charakterbild des Berliners wird durch eine Eigenschaft beherrscht, die das direkte Gegenteil seiner Vorstellung von Urbanität ist, die das Äußerliche der bloßen Umgangsform inzwischen abgestreift hat.Der Grundzug ist krasser Egoismus, ein naives, vollkommen aufrichtiges Durchdrungensein von der Überlegenheit und besonderen Be­rechtigung der eigenen Person und des Orts, an dem die Person das Glück hatte, geboren zu werden" 78 . Es fehlt nicht an Äußerungen, in denen der Mangel an Weltbekenntnis, an Selbstkritik und Bereitschaft, sich nüchtern mit den Leuten in Vergleich zu setzen, die jenseits der Müggelberge wohnen, als das wahre Wesen dieses Menschenschlags erscheint.

Derlei Reduzierungen auf den kritischen Punkt waren geeignet, das unerfreu­liche Image zu bestätigen, das sichDer Berliner" zu damaliger Zeit im In- und Ausland erwarb. Sie entziehen Fontane der lokalpatriotischen Inanspruch­nahme, sind aber natürlich nicht als erschöpfend anzusehen. Sobald er weniger affektiv an den Berliner Typus heranging, entrollte sich dem Blick ein viel­seitiges und widerspruchsvolles, historisch gewachsenes Ganzes. Dazu holt er weit aus, als er mit dem AufsatzDie Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte", 1889 veröffentlicht, ein zweites Mal zur zusam-

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