waren Reminiszenzen an die heimische Lokalliteratur im Spiele, wenn er die Berliner für die besten Leser zumindest seiner Berliner Romane hielt, solange er noch nicht eines anderen belehrt war. Er scheint zwischen sich und ihnen doch eine größere Gleichgestimmtheit in Ton, Empfindung und Anschauung vorausgesetzt zu haben, als man nach seiner Kritik des Berlinertums vermuten sollte. Seine Virtuosität in Bummelwitzen und sein Geschmack am Kalauer kamen nicht von ungefähr. Eine der schärfsten Philippiken beginnt mit dem Geständnis: „Ich selbst gehöre auch mit dazu. Je berlinischer man ist, je mehr schimpft man oder spöttelt man auf Berlin" 86 . Beiläufig behauptete er sogar, das Berlinische sei ein vollkommener Schriftstellertypus . 87 Aber zur Vergewisserung wäre es der Mühe wert, „L'Adultera" oder ,,Irrungen, Wirrungen" auf die Adressaten hin zu betrachten, auf die sie zugeschnitten wurden und deren Bild in sie eingezeichnet ist. Das Mindeste, was er von seinen Berliner Lesern erwarten durfte, war Vertrautheit mit den lokalen Gegebenheiten; was er sich versprach, war ihre Fähigkeit, übers einfache Verständnis hinaus den „berlinischen .flavour' der Sache " 88 — die unverwechselbare Atmosphäre — herauszuschmecken. Diese Annahme, die sich auf seine langjährige Kenntnis der Leute stützte, für die er schrieb, war nicht unberechtigt, bewahrte ihn aber nicht vor den ärgerlichsten Enttäuschungen: Nicht genug, daß er mit „Irrungen, Wirrungen", dem Glanzstück, das er speziell für die „Vossische Zeitung" bestimmt und eingerichtet hatte, bei einem Teil der Leser auf ästhetisches und sittliches Unverständnis stieß — die Redaktion gab ihm daraufhin das Beispiel einer Angepaßtheit an die Abonnenten, die sich nicht nennenswert von derjenigen der Familienblätter unterschied, deren Marktführer die „Gartenlaube" war. Mit der Novelle „Stine", dem Gegenstück zu „Irrungen, Wirrungen" verfiel er anschließend prompt der Ablehnung; er hatte Mühe, sie überhaupt unterzubringen.
Es war, wie sich hier bestätigte, kein berlinisches Publikum schlechthin, an das sich Fontane gewandt, auf das er sich eingestellt und in dessen Vorurteilslosigkeit er sich getäuscht hatte. Die „Vossische Zeitung" war ein traditionsbewußtes Blatt von erklärtem Freisinn, der aber seinen Inhalt und seine Grenzen von der Groß-, Besitz- und Bildungsbürgerlichkeit empfing, die es repräsentierte. Im Konfliktfall setzte es sie durch. Fontanes Geschichte mochte noch so behutsam das Dekorum wahren — ihre Desillusionierung der illegitimen Geschlechtsbeziehungen in der Stadt und die Sympathie, die sie einem Mädchen aus dem Volk zuwandte, erwiesen sich als derzeit nicht damit verträglich.
Sonst enthielt „Irrungen, Wirrungen" nichts für diesen Leserkreis Anstößiges. Die fortschreitende Ausprägung des Großstadtcharakters bestimmte das Stadtbild und den Lebensraum der Figuren, aber schuf ihnen keine Probleme. Wer nicht von den verheerenden Begleiterscheinungen der kapitalistischen Urbanisierung wußte, die sich in der dargestellten, zwischen der Gründerkrise und dem Sozialistengesetz gelegenen Wirklichkeit häuften, hätte aus Fontanes wohlmeinenden Schilderungen nichts davon erfahren. Das innerstädtische Straßenleben bot erfreuliche Eindrücke, ein biederer Hauswirt verhielt sich menschenfreundlich, eigentliche Mietskasernen verblieben in neutraler Ferne, und die armseligen Vorstadtszenerien trugen pittoreske oder halbexotische Züge, während die Arbeiter eines Industriebetriebs in ein ländliches Idyll versetzt wurden. Man müßte an Opportunitätsrücksichten denken, wenn nicht
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