die anderen Berliner Romane, auch die Bourgeois-Satire „Frau Jenny Treibel", vergleichbare Eigenschaften aufwiesen. Bei einem Autor, der die Presse zu verfolgen gewohnt war und sich oftmals nicht mit der Lektüre der „Vossischen" oder der „Kreuzzeitung" beignügte, kann auch keine Desinformiertheit und kein Kenntnismangel solchen Ausmaßes angenommen werden. Außerdem verfügte er aus der allgemeinen Mietsteigerungswelle von 1872 über einschlägige Erfahrungen, deren ökonomischer Mechanismus auf der Hand lag Fontanes waren gezwungen, nach neun Jahren ihre Wohnung in der König- grätzer Straße 25 aufzugeben, weil der spekulierende Besitzer das Haus an Geldleute verkauft hatte und die Mieter nun das Doppelte zahlen sollten. Im Unterschied zu seiner Frau, die sich um passablen Ersatz ängstigte, behielt Fontane recht mit seiner zuversichtlichen Beurteilung des Wohnungsmarktes. Dort herrschte, während die billigen Wohnungen den hochgeschnellten Bedarf in keiner Weise deckten, ein leichtes Überangebot in der gehobenen Preiskategorie, die für seine Familie in Betracht kam. Die Vierzimmerwohnung Potsdamer Straße 134 c, die unschwer gefunden und auch nicht wieder gewechselt wurde, kostete mit 70 Talern fürs Quartal übrigens kaum mehr als die vorige.
Daß der Vernoblung Berlins, seiner Umgestaltung in eine „schöne und vornehme Stadt", welche die städtebaulichen Fortschritte einschloß, das Gründerfieber und eine maßlose Boden- und Bauspekulation vorangegangen waren, daß sie von Wohnungsnot und Massenelend begleitet wurden, kann ihm nicht gut verborgen gewesen sein. Aber es scheint ihn — der Wahrheit die Ehre — kaum beschäftigt und wenig gestört zu haben. In dem hohen Interesse, das er der Entwicklung des modernen Berlin entgegenbrachte, traten die großen sozialökonomischen Bewegkräfte und Massenprozesse unverhältnismäßig weit hinter die Veränderung der Lebensbedingungen, der Lebensformen und der Mentalität zurück, von denen er meinte: „Die Differenz zwischen jetzt und damals ist so groß, daß ich (. . .) jedesmal das Gefühl habe, ,vor fünfzig Jahren' auf einem anderen Planeten gelebt zu haben. Zwei ganz verschiedene Formen des Daseins! Wir sind alle für diese ganz enormen und auf allen Gebieten liegenden Fortschritte (. ..) lange nicht dankbar genug." 89
Erfahrung der Wirklichkeit und ihre Darstellung
Fontane hatte die kulturgeschichtliche Umwälzung bewußt und kritisch mitvollzogen, und er hatte im Verlauf eine vollkommen veränderte Lebensstellung eingenommen. Diese Vorgänge, die nicht miteinander zusammenfielen, griffen in seine Lebensweise ein und regulierten die Art und Weise seiner Wirklich - keitserfahrung; in den strukturellen Eigentümlichkeiten seines erzählerischen Werks traten die Folgen zutage. Weit ausholend und zu Bekenntnissen aufgelegt, führte er Georg Friedlaender, dem vertrauten Partner vieler Briefe und Gespräche, auf dessen Stichwort hin das Problematische der Berliner Künstlerexistenz vor Augen: „Bismarck, der so oft recht hat, hat auch recht in seiner Abneigung gegen die Millionenstädte. Sie schreiben selbst, ,bei weniger „Car- riere" hätten wir mehr Wahrheit in der Welt'. Gewiß. Und nicht bloß mehr Wahrheit, auch mehr Einfachheit und Natürlichkeit, mehr Ehre, mehr Menschenliebe, ja auch mehr Wissen, Gründlichkeit, Tüchtigkeit überhaupt. Und
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