Heft 
(1990) 49
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und mit den Lebensformen gespielt hat, der verlernt es, diesen Lebensformen einen hohen Wert beizulegen " 97

Fontane folgte bei der Strukturierung seiner epischen Welt in vieler Hinsicht dem Modus seiner Wirklichkeitserfahrung. In der Sphäre der von ihm so genannten Lebensformen, unter denen er die Sozialrollen verstand, in denen sich die gesellschaftlichen Beziehungen verkörperten und ihre Träger sich zurechtzufinden hatten, ergaben sich daraus wohl die schwerwiegendsten Aus­wirkungen. Im Guten und Bösen, das heißt Satirischen, richtet er seine Auf­merksamkeit auf dieetablierte(n) Mächte", bei denen er sich eingereiht hatte: Geld, Adel, Offizier, Assessor, Professor. Selbst Lyrik (allerdings als eine Art Vaduz und Liechtenstein) kann als Macht auftreten" 98 . In der vielbesprochenen Randstellung desvierten Standes" reproduzierte sich die tatsächliche Tren­nung der einen Nation von der anderen. Ihre Angehörigen gerieten ins Blick­feld, sobald und soweit sie zu den Vordergrundsfiguren in eines der gewöhn­lichen Verhältnisse traten: ins Arbeits-, Abhängigkeits- oder Liebesverhältnis, das hier sehr wohl an dem Platz rangiert, der ihm zukommt. Dann gewannen sie auch Gesicht, Namen, Individualität. Daß Ausbeutung und Unterdrückung sich erst ganz spät und sporadisch eindrängten, ergänzte die soziale Perspek­tive nach der ideologischen Seite und ließ es zu, dafj der Eindruck einer im ganzen gesitteten und geordneten Welt erwächst, aus der nicht einmal die bezahlte Liebe herausfällt. Das selbstbewußte Treiben der Witwe Pittelkow steht dem freundlichen Gedankengang des jungen Grafen Haldern nicht im Wege, von dem es heißt:Er war in der Vorstellung herangewachsen, daß die große Stadt ein Babel sei, darin die Volksvergnügungen, wenn nicht mit Sittenlosigkeit und Roheit, so doch mit Lärm und Gejohle ziemlich gleich­bedeutend seien, und mußte nun aus Stines Munde hören, daß dies Babel eine Vorliebe für Lagern im Grünen, für Zeck und Anschlag habe" 99 .

Fontanopolis war nicht Berlin. Es war Fontanes Berlin, freigehalten von den offenen Klassenkonflikten, ein bißchen nüchtern und nichts weniger alsdie Großstadt als phantastisches Eigenwesen auf apokalyptischem Hintergrund » 109 das man aus Paris und Petersburg kannte; es begann bei Berliner Naturalisten soeben in Erscheinung zu treten. Doch nicht bloß damit verglichen, hinterläßt sein Berlin den Eindruck eines gelinden Anachronismus. Schon unter Zeit­genossen fühlte man sich durch den Helden vonIrrungen, Wirrungen" weniger an einen gegenwärtigen Gardekavallerie-Offizier von altem Adel erinnert als an die Militärs aus Fontanes Tunneljahren. Man wird andere Figuren finden, vor allem aus den Unterschichten, auf die Ähnliches zutrifft; Fontane hat ungewollt auf die Gründe aufmerksam gemacht, als er über seine Eignung zumSchilderer der Demimondeschaft" bemerkte,erstlich hat man doch auch in grauer Vergangenheit in dieser Welt rumgeschnüffelt, und zwei­tens und hauptsächlichst, alles, was wir wissen, wissen wir überhaupt mehr historisch als aus persönlichem Erlebnis,, 101 . Auch in den intimsten Fragen sei der Bericht beinah alles. Was hieß das anders, als daß er mit Vorstellungen wirtschaften mußte, deren empirischer Grundbestand von dem etwas heiklen Milieu ganz abgesehen nicht der Gegenwart entstammte. Man kann nur staunen, wie Fontane dieses partielle Zurückbleiben hinter der Zeit und den jüngeren Zunftgenossen in jene gegenständliche und atmosphärische Sättigung vor allem seines Berlin mit Geschichte überführte, die ihresgleichen sucht und

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