Heft 
(1990) 49
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einen Großteil seiner Überlegenheit ausmacht. Bei ihm begegnen sich auf einem Gesprächs- und Umgangsniveau, das vollkommen gegenwärtig und, wenn angebracht, auf der Höhe der Zeit ist, Denkinhalte, Rede- und Verhaltensweisen der verschiedenenLebensformen" und Generationen, gebrochen in den Men­schen, die sie sich zu eigen gemacht haben. Oft genügen wenige Worte; das ist an dem winzigen Begrüßungsvorgang inIrrungen, Wirrungen" eindrucks­voll demonstriert worden, wo der alte Baron Osten vor Hillers Restaurant bereits an der Glastür stand und ausschaute, denn es war eine Minute nach eins. Er unterließ aber jede Bemerkung und war augenscheinlich erfreut, als Botho vorstellte: .Leutnant von Wedell'" 102 . Die altpreußische Pünktlichkeit des Onkels kontrastiert mit der winzigen Nachlässigkeit des Neffen, die ver­merkt, aber übergangen wird, die Begegnung zwischen zwei Angehörigen alter Familien, verschiedener Generationen, die, wie man schon weiß, der eine aktiv, der andere außer Diensten zum selben Regiment gehören, erfüllen den Augenblick mit dem Fluß der Zeit.

Ein zweites kam hinzu. Fontane brachte efc im selben Brief zur Sprache, mit dem er Mathilde von Rohr von der enttäuschenden Soiree bei Graf Egloffsteins berichtet hatte. Er bezeichnete es abschwächend als einen kleinenNebenärger, der, je älter ich werde, immer stärker wird. In der Regel verlaufen die Dinge so, daß man mich zwar mit exquisiter Artigkeit behandelt, dem Ganzen aber doch ein Ton und Wesen gegeben wird, aus dem man die einem zuteil werdende bedeutende gesellschaftliche Auszeichnung erkennen soll. Dies ist mir nun im höchsten Grad langweilig und ridikül, ich empfinde nichts von einer Auszeich­nung, bin vielmehr so kolossal arrogant, mir umgekehrt einzubilden, die Leute müßten froh sein, mich kennengelernt zu haben. Denn erstlich habe ich doch auch so was wie einen Namen oder Nämchen, was aber viel wichtiger ist, ich habe viel erlebt und gesehen und kann darüber, wenn mir nur einer zuhören will, was freilich selten der Fall ist, in eingehender, bilderreicher und esprit­voller Weise sprechen. Es ist nichts Auswendiggelerntes, nichts Schablonen­haftes in mir, ich bin ganz selbständig in Leben, Anschauung und Darstellungsart und halte mich deshalb für interessant und apart" 103 .

In ganzer Schärfe trat hier die Reibungsfläche zutage, die sich zwischen Fontane und der guten keineswegs nur feudalen Gesellschaft herausbildete, man kann sagen, weil er in sie integriert war. Sie lag auch den Konflikten zugrunde, die ihn veranlaßten, 1870 seinen Redakteurposten bei derKreuzzeitung" und 1876 das Amt eines Sekretärs der Königlichen Akademie der Künste mit Eklat hinzuwerfen, nachdem er es kaum angetreten hatte. Gleichermaßen sensibel und selbstgewiß, wurde er von der Erfahrung verfolgt, daß eine ungeschmä­lerte Anerkennung jener Ebenbürtigkeit, ja Überlegenheit, zu der einst der Poet Lafontaine den akklamierendenTunnel" hingerissen hatte, dem Menschen und Schriftsteller Fontane, der sich dem Zenit seiner Laufbahn näherte, vor­enthalten blieb. Trotz des sanguinischen Temperaments, das er sich zuschrieb, lernte er nur schwer, darüber resignierend die Achseln zu zucken und hat sich niemals bereitgefunden, es hinzunehmen. Dies war der Bereich, wo die Erfah­rungen mit seiner Umgebung auch subjektiv authentisch wurden, persönliche Betroffenheit und unmittelbare Mitleidenschaft nach sich zogen. Deshalb von Ausgliederung oder, wie für die Zeit vor 1860, von Desintegration zu sprechen, wäre übertrieben. Es handelte sich um eine Diskrepanz, die er zu objektivieren

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