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ihres Exempels, daß die Wimper sich hoben und die blauen Augen sie so verwundert ansahen, daß sie darüber erschrak und nur noch mehr verwirrt wurde.
„Ach, ich war zerstreut — nein — so ist es nicht, wir wollen noch einmal anfangen, Kinder. Also gebt Acht!"
Die kleinen Mädchen wandten sich für einen Augenblick nach der Mutter um, lächelten und blickten dann wieder mehr neugierig als aufmerksam auf die Tafel. Die Gräfin sah längst wieder auf ihre Stickerei und Alice begann von neuem. Es gelang ihr aber wieder nicht, ihre Aufmerksamkeit auf Rieß, Buch und Bogen zu konzentriren, sie dachte vielmehr nur: „Ach Gott, für wie dumm muß die Gräfin mich halten!" Auch der zweite Versuch mißlang. Alice hatte sich nie so unglücklich gefühlt wie in diesem Augenblick. Die Verzweiflung gab ihr denn auch endlich die Klarheit ihres Geistes zurück, aber jetzt waren die Kinder zerstreut und gaben die einfältigsten Antworten.
Endlich, endlich schlug die Uhr zehn. Die Gräfin erhob sich, küßte ihre Töchter auf die Stirn und verneigte sich gegen Alice. Diese, im innersten erregt, roth, erhitzt wie sie war, fühlte, daß sie irgend etwas sagen mußte, aber was?
„Gnädige Frau," stammelte sie mit einer Stimme, in der künftige Thränen durchzitterten, „Sie dürfen —"
„O bitte, mein Fräulein," fiel ihr die Gräfin mit einem Blick auf die Kinder ins Wort, „Sie hatten sich geirrt. Das kommt natürlich vor. Sie rechneten das Buch zu zwanzig Bogen, während es viernndzwanzig hat. Ich wollte nicht stören, sonst hätte ich Sie auf Ihr Versehen aufmerksam gemacht. Auf Wiedersehen!"
Da Frau Ina viel größer war als Alice, so hatte diese zu ihr anfsehen müssen. Jetzt wandte die Gräfin ihr den Rücken zu und Alicens Hilfe suchender Blick fiel nur noch auf die laugen Falten und die weite Schleppe ihres weißen Mvrgen- kleides.
„Sie ist durchaus unfähig," dachte die Gräfin, während sie die Treppe hinabstieg. „Meine Befürchtungen erfüllen sich, statt einer Gouvernante haben wir ein Stück adeligen Proletariats ins Hans bekommen. Sie war zerstreut — schön —
! aber könnte ich wohl je so zerstreut fein, daß ich nicht mehr wüßte, wie viel Bogen ein Buch hat und dann, warum wurde sie durch meine Gegenwart zerstreut?"
„Der Herr Doktor ist auf der Veranda," meldete der Diener im Borsaal.
„Guten Morgen, Doktor," rief die Gräfin, als sie die Veranda betrat, und streckte dem Angeredeten beide Hände entgegen. „Wie geht es daheim?"
Der Doktor, ein großer Mann mit grauem Haupthaar und Vollbart und einem von Wind und Wetter roth gefärbten Gesicht, ergriff die Hände der Gräfin und führte sie an die Lippen. „Danke bestens, Jnachen," — so nannte er die Gräfin ans ihren Wunsch, wenn sie allein waren — „die Alten sind ganz wohlauf. Na, wie sollten sie auch nicht, Paul kommt Ende nächster Woche."
„Kommt er, Doktor? Kommt er wirklich? Das ist herrlich. Sehen Sie, Doktor, Sie bringen mir immer etwas Liebes, darum liebe ich Sie auch so."
„Wirklich? Thue ich das. Na ja, früher, als man noch mit Zuckerkringeln wirken konnte und Chokoladeplätzchen, da war ich bei meinem Jnachen ein lieber Gast — aber jetzt auch noch?"
„Jetzt auch noch, Doktor. Aber kommen Sie — Sie wissen, ich muß Luft und Licht haben. Sie lieben ja auch die Sonne. Geben Sie mir Ihren Arm — so, kommen Sie!"
Sie stiegen nun die Treppe hinab und suchten den Platz wieder auf, den die Gräfin vorhin verlassen hatte.
Die Augen des Arztes ruhten mit zärtlichem Ausdruck auf der Gräfin. Er hatte viele Kinder und er liebte sie sehr, aber er liebte doch keines mehr als sein Jnachen.
„Sie sehen übel ans," sagte er. „Wo fehlt es?"
„Es ist nichts, Doktor. Wer sieht nicht einmal etwas angegriffen aus!"
„Nein, nein, Sie haben Ringe unter den Augen — Sie sehen wirklich angegriffen aus."
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„Ich versichere Ihnen, Doktor, ich bin ganz gesund. Waren Sie schon im Hospital?"
„Ich? Im Hospital? Nein, was soll ich da. Da ist ja --- Gott fei Dank, kein Mensch darin. In der Knechtsstube war ich — wissen Sie — der Kinder des Brandwine wegen
— aber das hat nichts aus sich."
„Nun, das ist erfreulich. Also eine gesunde Zeit."
„Na ja, hier. Aber drüben im Pargelschen — das halbe Gebiet krank. Ich sage Ihnen, Jnachen, die Leute rissen sich um mich."
„Waren Sie so weit gefahren?"
„Ja, was blieb mir übrig? Sie haben dort keinen Arzt. Da war eine arme Frau -- ein Knechtsweib — konnte nicht gebären. Arme Leute — vier Kinder waren schon da — das fünfte ging zu Grunde — daß Gott erbarm!"
„Kommen Sie wieder hin, Doktor?"
„Na ja, weiß schon, danke herzlich, werde es besorgen lassen. Zehn Rubel werden zunächst genug sein, behalten Sie die fünf nur, Jnachen, hole sie mir schon ab, ein andermal. Oder warten Sie — geben Sie sie doch lieber her — so — danke herzlich, legen Sie noch fünf zu, dann langt es für den Hirsch im Smiltenkruge. Armer Kerl — hat die Schwindsucht, kann nichts verdienen, daß Gott erbarm! Was die Slaumke anbetrifft — wissen Sie, die Mutter von der hübschen Kalle
— die kriegt nichts. Sie hat es nicht nöthig, bekommt von der jüdischen Gemeinde zwei Rubel monatlich. Nein, die will nur für die Tochter ein Krongeld znsammensparen, hat aber noch keine Eile bannt."
Die Gräfin drohte dem Doktor mit dem Finger.
„Na ja, was wollen Sie — für ein hübsches Mädchen behält auch ein alter Kerl noch ein Auge. Apropos, ein alter Kerl bin ich, das habe ich neulich gesehen - ich sage Ihnen, Jnachen, ich wäre vorgestern, als ich nach Pargel fuhr, um ein Haar ertrunken."
„Aber, Doktor!"
„Nein, wahrhaftig. Na bleiben Sie nur sitzen, Jnachen, aber ich wäre wahrhaftig um ein Haar Chatzke gewesen. Wissen Sie, es war schon dunkel, und ich verfehlte die Furth durch die Erke — und mit einem Male fällt der Braune herein — was soll ich Ihnen sagen, Jnachen — nur die Ohren standen heraus."
„Nun? Nun?"
„Na ja, was ist da zu Nu—en? Ich heraus und au den Gaul heran. Aber ich sage Ihnen, es wurde mir höllisch schwer, die Mähre an die Zügel zu fassen, ich sage Ihnen, Jnachen, höllisch schwer. Na ja, man wird alt, Jnachen, man wird alt. Aber sprechen wir von etwas anderen! — vom Alter spricht man nämlich nicht gern, Jnachen — nein, wahrhaftig nicht. Wie gefällt Ihnen denn die neue Gouvernante? Soll ja ein bildhübsches Mädel sein."
„Wie so, wer sagt das?"
„Na ja, der Herr von Grünhof, wissen Sie, Jnachen, der bei der Accise — junger blonder Mensch — Mordschmarre über die ganze linke Wange. Na ja, was rede ich, er kam ja von Ihnen. Begegnete ihm gestern Abend. War ganz ans Rand und Band. Soll ja reizende Grübchen haben. He? Hören Sie, Jnachen — die Edeltanne da gedeiht aber wirklich ganz famos."
„Ja, sie gedeiht."
„Na ja, schön. Ihr müßt sie aber nicht maltraitiren, weil sie adelig ist."
„Was fällt Ihnen ein, Doktor!"
„Na ja, wir sprechen ja unter uns. Sie haben auch ein bischen adeligen Tick — ein klein bischen, Jnachen, aber doch ein bischen."
„Nun, dann müßte ich ja gerade glücklich sein, sogar eine adelige Gouvernante zu haben."
„Na ja, das scheint so, ist aber nicht so. Man denkt, sie wird immer Kuchen haben wollen und gönnt ihr darüber das liebe Brot nicht. Na ja, mein Jnachen wird ihr gutes Herz schon mitsprechen lassen. Armes junges Ding! Muß auch kein Vergnügen sein, den alten Heinersdorf zum Vater zu haben."