Daheim-Anlage zu Aa 9. 1878.
Aus dem Uuökikum
Wir veröffentlichen heute zwei Zuschriften, die uns von weiblicher Hand zugeganqen sind und die jede in ihrer Weise — eine Reform unserer Sitten anstreben. Ist es auch in erster Reihe Aufgabe der Frauen, Hüterinnen der Sitte zu sein, so wird ihne-, doch niemand das Recht absprechen, auf diesem Gebiete auch reformatorisch vorzugehen. Ob die in diesem Fall ausgesprochenen Wünsche berechtigte sind, bleibe dahin gestellt. Wir stellen diese Themata zunächst nur zur öffentlichen Diskussion und werden etwaige Entgegnungen, — sofern Ton und Inhalt derselben das zulassen — gern veröffentlichen.
Wir geben zunächst Frau Marie Kalm das Wort, welche die Frage erörtert:
Wann sollen wir zu Mittag speisend
Die Wahrheit, daß kleine Ursachen oft die Veranlassung von großen Wirkungen sind, schreibt Fr Kalm, hat man oft genug Gelegenheit bestätigt zu finden. Es bedarf nicht immer großer Revolutionen, um politische oder sociale Wandlungen hervorzurufen, em scheinbar unbedeutender, äußerer Umstand genügt oft dafür. So sagt man, daß der französische Arbeiter weniger höflich geworden sei, seit er das langschößige üudit gegen die in der ersten Revolution adoptirte Blouse vertauscht habe, und manche Kulturhistoriker bestimmen den Bildungsgrad einer Nation nicht nach ihren Leistungen in Literatur und Kunst, sondern nach — dem Verbrauch der Seife.
In ähnlicher Weise scheinen mir auch manche Uebelstände in unserm lieben Vaterlande nicht sowohl die Folge von nationalen Charakterfehlern, als von äußeren Umständen zu sein. Die Verfasserin des vielbesprochenen Buches: „dsruaun Horns I-iks" klagt über die Kleinlichkeit unserer häuslichen Einrichtungen, über den Mangel an feinen Umgangsformen in der Familie wie in der Gesellschaft; sie hält uns in Folge dessen für geizig und unbeholfen, während wir einfach nur arm sind, und, wo das Gute fehlt, unmöglich den Glanz und den Schimmer hinzufügen können.
Indessen ist diese, allerdings nicht wegzuleugnende Armuth doch nicht der alleinige Grund für die gerügten Mängel. Noä) andere Ursachen lassen sich dafür anführen, und unter ihnen eine, die vielleicht sogar an dieser Armuth selbst nicht ganz ohne Schuld ist, eine Einrichtung, die, anscheinend unwichtig, doch tief in unser Leben eingreift und entschieden zu den kleinen Ursachen gehört, welche große Wirkungen Hervorbringen können: ich meine unsere Essenszeit.
Bei meinem ersten Besuche in England berührte es mich unangenehm, die Hauptmahlzeit des Tages nicht, wie ich gewohnt war, um Mittag, sondern erst gegen Abend einnehmen zu sollen. Die Zeit zwischen 12 und 2 Uhr schien mir die natürliche für jenes Mahl, das Diner um 6 oder 7 Uhr höchst sonderbar. Als ich eine derartige Bemerkung gegen die Frau eines Kaufmanns machte, gab sie mir zur Antwort: sie würde dann genöthigt sein, ohne ihren Mann zu diniren, denn er könne doch unmöglich mitten am Tage seine Geschäfte so lange unterbrechen; der „luncü", den er um diese Zeit einnehme, sei ja rasch verzehrt.
Bald fand ich selbst die Vortheile des späten Essens heraus. Ich arbeitete auch mehr, besonders an den trüben Wintertagen, da ich meine Beschäftigung um Mittag nur für eine halbe Stunde zu unterbrechen brauchte, und statt des konsistenten Diners nur einen leichten Imbiß einnahm, auf den das Sprichwort vom „vollen Magen, der nicht gern studirt" keine Anwendung finden konnte.
Die Wahrheit des letzteren Wortes hat ein jeder wohl erfahren. Ob es sich nun um eine mechanische oder geistige Arbeit handle, es wird nach dem Mittagessen schwer, wieder daran zu gehen. Die Natur verlangt Ruhe für den Körper, um die eingenommene Nahrung zu verarbeiten und rächt sich sicherlich, wenn diese Ruhe ihm verweigert wird. Die Arbeit, welche man mittags von 2—3 Uhr verrichtet, hat meist wenig Werth und erfordert eine Anstrengung, die nachtheilig auf die übrigen Nachmittagsstunden einwirkt.
Wie anders, wenn die Hauptmahlzeit spät eingenommen wird! Nach einem guten Frühstück — denn das einfache „Brötchen" reicht freilich nicht aus! — geht man an die Arbeit, die ungestört bis 1 Uhr fortgesetzt wird. Um diese Zeit steht eine kleine Kollation im Eßzimmer, die, gewöhnlich aus kalter Küche bestehend, (wenn nicht für den Hausherrn ein besonderes Gericht bereitet ist!) nicht so strenge Ansprüche an die Pünktlichkeit der Familienglieder stellt, wie das Mittagessen. In den großen Handelsstädten, wo die Privatwohnung meist weit von dem Geschäftslokale entfernt ist, nehmen die Kaufleute dieses Mahl gewöhnlich außer dem Hause, oft gemeinschaftlich mit Geschäftsfreunden ein, so daß es noch weniger als Unterbrechung betrachtet werden kann. — Hinlänglich gestärkt, wird die Arbeit dann bis 6 Uhr fortgesetzt, und nun ist sie für heute beendet, die Berufsthätigkeit wird abgeschlossen, die übrige Zeit gehört der Familie und der Gesellschaft.
Für diejenigen Beruf'sarten, welche des Tageslichtes bedürfen, ist die fragliche Einrichtung geradezu nothwendig. Der Maler z. B. verliert im Winter seine beste Arbeitszeit, wenn er um 1 Uhr dinirt; viele Künstler haben deshalb auch ihre Hauptmahlzeit auf den Abend verlegt, kommen dadurch aber in Kollision mit allen ihren Bekannten, deren Essenszeit die alte ist. — Wie zweckmäßig das späte Essen für die Schuljugend wäre, wie viel Zeit dadurch für die Arbeit wie für das Haus gewonnen würde, das haben tüchtige Pädagogen schon zu wiederholten Malen dargelegt.
Es ist also wohl nicht zu bestreiten, daß durch das späte Diner Zeit gespart wird, und damit auch Geld — denn „bims is monsz-!^ In allen mdustriellen Ländern finden wir deshalb auch diese Einrichtung; in Deutschland nur in Hamburg, derjenigen unserer Städte, die in ihren häuslichen und auch in ihren pekuniären Verhältnissen am meisten Ähnlichkeit mit England zeigt. Im allgemeinen aber hat der Deutsche in Folge des konservativen Prinzips, das so mächtig in ihm ist, die Essenszeit mitten am Tage, so wie sie bei seinen Eltern und Voreltern Sitte war, beibehalten, höchstens oas ursprüngliche Zwölfuhr-Effen um 1 bis 2 Stunden verschiebend.
— für das Wuöükum.
Wie aber das Neue nicht gut ist, weil es neu, so sollte man auch das Alte nicht beibehalten, weil es uns durch Gewohnheit lieb geworden ist. Kann der erste Grund, die Zeitersparniß uns nicht für das späte Diner gewinnen, so sollte der zweite es thun, nämlich der günstige Einfluß, den dasselbe auf unser Familienleben ausüben würde. Dies ist doch ein Punkt, der bei uns Deutschen sehr in die Wagschale fällt.
Was wir an unserem Mittagessen besonders liebten, war seine Gemüth- lichkeit. Alle Glieder der Familie vereinend, zu traulichem Aussprechen auffordernd, erschien es uns stets als ein wichtiger Faktor des Familienlebens. Aber ist es das noch? Ist unser Mittagessen wirklich behaglich und gemüth- lich? Freilich in Familien, die nur sich selbst leben, in denen jedes Mitglied unbeschränkt über seine Zeit verfügen kann, mag es das sein, in allen industriellen oder büreaukratischen Kreisen aber, in allen innerhalb des thätigen Lebens stehenden Familien hat das Mittagessen viel von seiner Behaglichkeit eingebüßt.
Der Hausherr setzt sich zerstreut zu Tisch: er hat den Kopf voll von der Arbeit des Morgens, dis unterbrochen, aber nicht abgeschlossen wurde, und die er alsbald wieder aufnehmen soll. Die geringste Verspätung, welche die Köchin sich zu Schulden kommen läßt, bringt ihn außer sich, da sie eine Verspätung in den Geschäften des Nachmittags nach sich zieht. Die Kinder, die um 2 Uhr wieder in der Schule sein müssen, essen ebenfalls in Hast, — die arme Hausfrau hat nur dafür zu sorgen, daß alle so schnell als möglich ihr Mahl einnehmen und dann expedirt werden. Von einem ruhigen Beisammensein, einem traulichen Aussprechen ist da nicht die Rede!
Eben so wenig aber bringt das Abendbrot ein solches. Der Abend ist ja die Zeit der Gesellschaft, der Theater, Konzerte, — starke Konkurrenten für Haus und Familie! Der Mann hat heute seine Versammlung, morgen ein Festessen und ein für alle Mal sein Kasino; die Frage, welche die Gattin mittags an ihn richtet: kommst Du heute zum Abendbrot nach Hause? wird meistens verneint. Da hält sie sich denn auch nicht für verpflichtet, den Abend daheim zu verbringen; sie geht ihrem Vergnügen nach, die Kinder dem Dienstmädchen überlassend.
Das späte Diner würde das alles ändern. Ein Jeder hat des Tages Last und Hitze getragen; mit freiem Geiste, einer freien Zeit entgegen sehend, setzt man sich zum Essen nieder. Der Mann hat den Arbeitsrock, die Frau das Hauskleid abgelegt, die Kinder ihre Hände von den schwarzen Zerchen des Tagewerks befreit; die aufgefrischte Toilette gibt auch dem Körper eine größere Frische, die sich wiederum leicht auf das Innere überträgt. Und wie man Zeit für die Toilette hat, so findet man sie auch zur Beobachtung aller jener kleinen Höflichkeitsformen, welche, an sich unbedeutend, doch in ihrer Gesammtheit den „guten Ton" ausmachen und welche nur dann in der Gesellschaft herrschen können, wenn sie in der Familie zu Hause sind und früh den Kindern anerzogen werden. Zugleich aber sind jene Höflichkeitsformen, weit entfernt die Gemüthlichkeit zu stören, die besten Beförderer derselben, wie ihr Mangel, das Sichgehenlassen in Erscheinung und Benehmen, alles wahre Familienleben untergräbt
Hat man dann aber beim Scheine der Lampe das Diner (ein deutsches Wort würde Herr Stephan wohl freundlichst dafür liefern) eingenommen, von einer angenehmen Unterhaltung gewürzt; hat der Hausherr danach in ungestörter Ruhe seine Cigarre über seinen Zeitungen und seiner Tasse Kaffee genossen, während die Hausfrau mit gutem Gewissen auf ihren Lorbeern ruhen darf, so sind beide weit weniger geneigt, das traute Heim noch zu verlassen, als wenn dies vor dem Abendbrot geschieht. Der Geschäftsmann hat seine Freunde bei dem zweiten Frühstück gesehen (für „lunstrson" müßten wir uns auch ein neues Wort zulegen!) die Gasthäuser und Restaurants sind weit weniger lockend, wenn der Magen befriedigt ist; die Hausfrau aber bleibt schon von selbst zu Hause, wenn der Mann cs thut; für ein richtiges Damenkränzchen ist es ja ohnehin zu spät geworden!
Und hiermit komme ich auf die dritte Wirkung, die unbestreitbarste und vielleicht wichtigste, welche das späte Essen ausübt, nämlich die auf die Geselligkeit. Diese würde durch die fragliche Veränderung gänzlich umgestaltet und, darf ich sagen, unendlich verbessert werden.
Vor allen Dingen würde die Bewirthung außerordentlich vereinfacht. Man hat um sechs Uhr dinirt - selbstverständlich kann man'um acht Uhr kein Souper einnehmen. Ein einfaches Büffet, einige leichte Erfrischungen genügen, und geht man darin auch nicht so weit, wie in den südlichen Ländern, wo oft nichts als Limonade oder Eis gereicht wird, so ließen sich doch mit den Kosten einer jetzigen „Abfütterung" ein halbes Dutzend Abendgesellschaften von jener Sorte bestreiten. Auf diese Weise also würde einer Menge Familien, die jetzt entweder auf einen ausgedehnteren geselligen Verkehr verzichten, oder für jede standesgemäße Gesellschaft, die sie geben, vier Wochen darben müssen, die Gelegenheit geboten, ihren geselligen Neigungen zu genügen, ohne ihr Budget zu überschreiten, oder sich dem Tadel auszusetzen, daß man von N.'s immer hungrig nach Hause käme.
Tritt aber so das Element des Eß- und Theetisches in den Hintergrund, so würde das ästhetische Clement dadurch unendlich gewinnen. Die Hausfrau wird von der Sorge befreit, daß, in Folge der Verspätung einiger Gäste, die Fische sich in Fricassee aufgelöst haben, oder der Braten in Rembrandtschem Kolorit auf den Tisch kommt; sie braucht auch nicht den ganzen Abend über nur daran zu denken, ob jeder Gast versorgt ist, und man ihr Souper eben so gut findet, wie das neuliche bei A. . . oder B. . ., das Klappern der Teller und Schüsseln, das Ein- und Ausgehen der bedienenden Geister (die meistens gar keine geisterhafte Geräuschlosigkeit besitzen) unterbricht nicht fortwährend die Unterhaltung, welche im Gegentheil mit allen ihren musikalischen und deklamatorischen Hilfstruppen das Hauptziel > wie das Hauptinteresse des Abends bildet. Da arrangirt es sich dann leicht, daß eine jede Familie, die einen größeren Umgangskreis besitzt, ihren ,sonr Kxs", oder „offenen Abend" einrichtet; auch wird man viel leichter ungeladen zu Freunden hingehen, wenn man keine Ansprüche auf ein Abend-