Hubert Ohl (Münster i. W.)
Melusine als Mythologem bei Theodor Fontane
Als der S. Fischer-Verlag zum 100. Geburtstag Fontanes im Jahre 1919 die Herausgabe eines „Fontane-Buches" plant, ergeht an Thomas Mann die Aufforderung, seinen neun Jahre zuvor geschriebenen Essay „Der alte Fontane" dafür zur Verfügung zu stellen. Der durch die aufflammenden Polemiken um seine erst vor kurzem erschienenen „Betrachtungen eines Unpolitischen" aufgeschreckte Autor kann sich nicht entschließen, den alten Text völlig unverändert zu übernehmen. Ein längerer Passus, der, ausgehend von der Irritation Fontanes durch die zweideutige Größe Bismarcks, das nach-bismarckische, in die Zukunft weisende demokratisch-revolutionäre Element in Fontane betont hatte, fällt nun, 1919, samt einigen anderen politischen Anzüglichkeiten dem Korrekturstift zum Opfer. 1 Um den thematischen Zusammenhang seines Essays an der gestrichenen Stelle dennoch zu wahren und Fontanes eigentümlich ambivalente Haltung der Größe Bismarcks gegenüber angemessen zu beschreiben, entdeckt Thomas Mann in Fontane nun jene „doppelteOptik", die er selbst von Nietzsche übernommen hat, indem er die Urteile des Briefschreibers Fontane über Bismarck als das Interesse des „skeptischen Psychologen" bezeichnet, während er in Fontanes unmittelbar nach Bismarcks Tod entstandenem Gedicht „Wo Bismarck liegen soll" den „mythisch-ehrfürchtigen den großen Stil der Anschauung" verwirklicht sieht. 2 So entsteht im Blick auf Fontane die später so berühmte Doppelformel des Zugleich von „Mythus und Psychologie"; Thomas Mann erläutert sie an dieser Stelle ihres Ursprungs mit dem Satz; „Der Dichter ist konservativ als Schützer des Mythus. Psychologie aber ist das schärfste Minierwerkzeug demokratischer Aufklärung." 3
Mit seiner stehenden Formel „Mythus und Psychologie" hat Thomas Mann — wie groß auch immer das Moment der Selbstbedeutung darin sein mag -- einen auch heute noch gültigen Zugang zu dem Phänomen des Mythischen in Fontanes Erzählwerk gewiesen, sofern man sich entschließen kann, Mythos inhaltlich nicht auf die antike Mythologie festzulegen, sondern auch Sagenstoffe anderer Herkunft als mythenwürdig zu akzeptieren und sofern ihre dichterische Gestaltung im einzelnen Strukturmomente des Mythischen aufweist. Unter dieser Voraussetzung stellt Thomas Manns Formel einen Weg zur Erkenntnis eines bedeutsamen Zuges der dichterischen Einbildungskraft Fontanes dar. Wobei „Mythus und Psychologie" selbstverständlich keine Addition zweier unabhängiger Größen meint, sondern eine Wechselwirkung bezeichnet, in der beide Seiten vertauschbar sind und „Mythus als Psychologie" oder „Psychologie als Mythologie" bedeuten können.
Damit ist zugleich der Ansatz meiner ersten These formuliert: der Mythos kommt in Fontanes Werk durch das psychologische Interesse des Künstlers oder das Künstler-Interesse des Psychologen. Die gegen Ende der 70er Jahre einsetzende Faszination Fontanes durch eine bestimmte Erscheinungsform des Weiblichen — als einer elementaren Naturmacht, die sich hinter rätselvoller Kühle und Distanz verbirgt — vereinigt das intellektuelle Interesse des psycho-
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