Heft 
(1990) 49
Seite
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ergänzt werden muß: nicht nur die Wiederkehr naturhafterKonstanten" im menschlichen Dasein prägt die Wiederholung als Strukturform Fontaneschen Erzählens, auch sein Bild der Geschichte ist dadurch gekennzeichnet. Es ist hinreichend bekannt, daß Fontanes historisches Interesse beinahe synonym ist mit seinem Interesse am Anekdotischen. In der Anekdote verschmelzen aber nicht nur, wie Müller-Seidel gesagt hat, 7 Großes und Kleines, das große heroische Geschichtsbild des Historismus mit dem kleinen des Alltäglichen undNebensächlichen", an dem Fontane so viel lag: in der Anekdote durch­dringen sich auch Geschichtliches und Zeitloses, historisch Einmaliges und wiederkehrend Typisches, Unwiederholbares und immer wieder Mögliches im Horizont menschlichen Daseins. Die historischen Zusammenhänge, die Fon­tane sieht, sind nicht solche begrifflich-wissenschaftlicher, wohl gar kausaler Art; Fontane denkt in Analogien, er bezieht konkrete Situationen und einzelne Gestalten deutend aufeinander. In diesem Sinn kann er individuelle Schicksale in einem historischen Hintergrund spiegeln, der das Individuelle als Ausdruck überpersönlicher Zusammenhänge sehen läßt. Insofern in dieser Spiegelung zugleich wiederkehrende Grundsituationen des Menschen aufscheinen, zurück­liegende gesellschaftliche Konflikte solche der eigenen Gegenwart vor-erinnern, wird Geschichte als unumkehrbare Ereignisfolge aufgehoben zugunsten einer mythisch strukturierten Wiederkehr des Analogen, wenn nicht des Gleichen. Das dritte Moment schließlich, das an der Ausbildung mythischer Strukturen in Fontanes Romanen beteiligt ist, ist ein poetologisches. Auch für denRea­listen" Fontane, dessen Kunstein unverzerrtes Wiederspiel des Lebens ist, das wir führen" (III, 1, 568), 8 bleibt die verklärende Aufgabe der Kunst bestehen. DieseVerklärung" 9 meint nicht Verschönerung, sondern Reinigung der alltäglichen Wirklichkeit vom bloß Zufälligen, Scheidung des einmaligen, isolierten Details vom Repräsentativen und darin Typischen. Die dritte These lautet also: mythische Strukturen in Fontanes Romanen gründen in seiner Auffassung von der Aufgabe der Kunst, Verklärung der Wirklichkeit zu sein, transformatio der Realität in ein Bild der Kunst. Mythisierende und typisie­renden Tendenzen sind in diesem Sinne wiederum synonym. Damit weist Fontanes Werk als ein Hauptbeispiel des deutschen Poetischen Realismus ebenso auf die Typisierungstendenzen des Klassizismus zurück wie auf die Stilierungsversuche des Symbolismus voraus.

Ich wende mich nun dem Inhalt dieser Mythisierungstendenzen in Fontanes Werk zu und kehre damit zu meinem Ausgangspunkt, der Einheit von Mythus und Psychologie" bei Fontane zurück, genauer: den mythisierenden Tendenzen in Fontanes Melusinen-Darstellung.

Vorab sei festgehalten: es dürfte unter den deutschsprachigen Erzählern des späteren 19. Jahrhunderts nur wenige geben, die auf den ersten Blick ein so distanziertes Verhältnis zum Mythos oder gar der Mythologie erkennen lassen wie Theodor Fontane wie er denn überhaupt einer derjenigen deutschen Schriftsteller seiner Zeit ist, deren geistige Haltung, inhaltlich gesehen, die größte Distanz zum Bildungsgut der Klassik oder dem des humanistischen Gymnasiums aufweist. 10 Lange bevor Fontane als Romanautor hervortritt, bekennt er sich programmatisch zumRealismus" als derWiderspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst." 11 Von der in diesem Aufsatz bekundeten Abneigung gegen die Wei-

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