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einzustimmen, der enttäuscht ausrief: „Eine unpoetische Wehmuth erfüllte mich, daß alles dort fo anders, so ganz anders war, als meine Phantasie, nach der unvergleichlichen Schilderung unseres Dichters, es mir vorgemalt hatte."
Mit unermüdlichem Fleiß, gründlichster Gewissenhaftigkeit und einem sichern, auf die genaueste Orts- und Sachkenntnis; gegründeten Nrtheil hat Lucius die ganzen, ans das Sessenhcimer Idyll bezüglichen Akten nochmals revidirt. Kritisch beleuchtet er zunächst die umfangreiche „Friederiken-Literatur" von Naeckes „Wallfahrt nach Sesen- heim" bis auf das treffliche Werk von Hirzel und Bernays: „Der snnge Goethe", in welchem die für Friederiken gedichteten Lieder wie zu einem Kranze anmuthig verschlungen und die dahin gehörigen Briefe lehrreich znsammenge- stellt sind. Dann geht er den ganzen so wichtigen Abschnitt in Goethes Leben an der Hand urkundlicher Thatsachen genau durch und führt so des Dichters „anmuthvolle Erzählung aus das Maß geschichtlicher Wahrheit" zurück, aber er thut es
uns bekannten idealen Gestalt. Gereinigt ist es auch durch Pfarrer Lucius unwiderlegliche Nachweise von allem Makel, den noch neuerdings die böswillige Verleumdung
Das Scssenliciiiier Pfarrhaus zu Goethes Zeit (1770).
eben so taktvoll wie gewissenhaft, ganz nach des Dichters eigener Vorschrift: „Nichts verändert und nichts verwitzelt,
Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt."
Indem er so das
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Legendenhafte von dem geschichtlich Erwiesenen scheidet, wird freilich aus der lieblichen Idylle eine ernste tragisch verlaufende Geschichte: Goethe selbst hat ja seine Schuld gegen die Geliebte nie bemäntelt noch verkleinert, sondern sie offen cingestanden.
Was er seit seinem Scheiden ans Sessen- heim, das Friederiken in eine lebensgefährliche Krankheit stürzte, gefühlt, wie er, von Gewissensbissen gepeinigt, friedlos umher geirrt war, das spiegelt sich im „Clavigo", auch zum Theil im „Fairst" wider; Marie Beaumarchais insbesondere ist unzweifelhaft auf Friederike zn- rückzuführen. „Alles, was Goethe aus eigenen Borwürfen sich Kirche von ^essenhcim.
sagen mußte Friederiken gegenüber," urtheilt Hermann Grimm, „finden wir in Clavigos Charakter wieder, während die heroische Milde Mariens, in einer zerbrechlichen irdischen Erscheinung, so schön auch dem entspricht, was Goethe über Friederikens Benehmen im Jahre 1779 an Frau von Stein schreibt." Am Schlüsse des Berichtes über diesen denkwürdigen Besuch ruft der Dichter ans: „Jetzt kann ich wieder mit Zufriedenheit an das Eckchen der Welt hindenken und in Frieden mit den Geistern dieser Ausgesöhnten in mir leben."
Lucius bemerkt dazu: „Versöhnend wirkt auch noch heute die innige ruhige Schilderung dieses letzten Zusammentreffens, das zwischen Goethe und Friederike stattgefunden." Wer wollte dem nicht gerne beistimmen?
So steht denn Friederikens bisher schwankendes Charakterbild jetzt in festen Zügen vor uns, und es ist wahrlich nicht unebenbürtig der ans „Dichtung und Wahrheit"
mehrerer klerikaler Zeitungen der protestantischen Pfarrerstochter an- hängen wollten. Und schließlich wird es vollendet durch eine Schilderung des ferneren Schicksals Friederikens, die nnvermählt blieb, seit 1801 im Hause ihres Schwagers, des Pfarrers Marx, zuerst in Diersburg, dann zu Meißenheim bei Lahr still und zurückgezogen im rastlosen aufopfernden Dienst der Bedürftigen und Nothleidenden lebte, und am N. April 181 :;, von Reich und Arm tief betrauert, starb.
Die äußere Erscheinung des Lucinsschen Buches — der geschmackvoll eingefaßte Satz, das dem Auge wohlthuende Papier, die artistischen Beilagen — macht der alten Bnch- druckerstadt Straßburg, ans der schon im XV. Jahrhunderte zwei der ältesten Bibeldrncke hervorgingen, alle Ehre. Interessant ist es auch, daß aus derselben Offizin, die es her- gestellt, und zwar von dem Urgroßvater des jetzigen Besitzers (ex ot'- ileiim I-lsnriei Ilsitmi) gedruckt, einst die Thesen hervorgingen, über welche Goethe am 6. August 1771 behufs seiner Promotion zum
Licentiatcn (nicht zum Doktor) dispntirte.
Scssenhciin von Friederikens Ruhe ans.
R. K.
Herr E. A. Seemann ersucht uns, die Aenßcrung unseres Rezensenten in dem Artikel über das von ihm heransgege- bene„Prämienwerk des Albertvereins in Nr. 8: „es habe die Berlagshandlung sich vielfach mit dem begnügen müssen, was ihr uni des wohlthä- ligen Zweckes willen an Schnitten und Cli- chos dargeliehen wurde," durch folgende Mittheilung zu berichtigen: „Geschenkt in dem Sinne, daß keinerlei Gegenleistung gewährt wäre, ist nicht cincs der verwandten Galvanos, selbst für das Hcr- leihcn von Originalstöcken habe ich zum Theil sehr hohe Ber-
^ , gütnngen geleistet."
>)ollmrderbriim nn Pfarrgarten von ^e^enhenn. ^ '
Uricfkastrn.
Auf mehrfache Anfrage» nach einer Bezugsquelle der in Nr. 4 empfohlenen Lnft- l g-V erfch lnß-Cy lind er weilen wir hier zwei Adressen mit: R. Köpke in
Stralsund (Ossenreiherstr.) nnd Emil Reich»ow in Berlin (Gr. Friedrichsstraße 56). — W. T. in L. b. P. Eingehende Auskunft über den „Verbesscr- t'en Evangelischen Kalender" finden Sie im Daheimkalendcr 1873 S. XXXVIII ff. — G. v. T. in L. Zwei vorzügliche Bildnisse unseres Kaisers sind von Adolf Braun in Dörnach nach dem Leben — das eine im Herbst 1876 in Civil, oas andere im Frühjabr 1877 in Uniform — photographisch ausgenommen, und zeichnen sich gleicherweise durch Treue und Schönheit aus. Jede der beiden Aufnahmen ist in 4 Größen zu 4 verschiedenen Preisen in allen Buch- nnd Kunsthandlungen zu haben. — Fr. v. A. in K. in Pr. A n g n st Sturm ist der Sohn nnsers alten Mitarbeiters Julius Sturm. Seine Gedichte, von denen wir einige (XIII, S. 544, 761) veröffentlichten, sind so eben in einer zierlichenDuodezansgabs bei C. Bertelsmann in Gütersloh erschienen. — Der im vorigen Jahrgangs im Daheim erschienene Stufsnjahre eines Glücklichen" kam
Roman von Louise v. Frau gois: im Anfang November als Buch in zwei Bänden heraus und hat eine so beifällige Auf nähme gefunden, daß bereits eine zweite Auslage nothwendig geworden ist.
Inhalt. Der Bismarck von Hinterhausen. (Schluß.) Novellette von Zoö von Reich. — Der erste Verlust. Originalzeichnung von W. Simmler. — Persönliche Erinnernngen aus den Jahren 1848—1850. X!. XII. — Tie Jubiläumssänger in Deutschland. Von Rudolf
Kögel. — Franz Lenbach. Bon Karl Stieler. Mit Porträt. — Am F amili entisch e : Bücherschau. llVIl. Mit 4 Illustrationen von R. Aßmn s.
Herausgeber: vr. Uobert Koenig nnd Theodor Kermann Aantenius in Leipzig. Für die Redaktion verantwortlich: Htto Klastng in Leipzig.
Verlag der Daheim - K.«pedition (Kekhagen H Kkastng) in Leipzig. Druck von ZL. H. Teukner in Leipzig.