Heft 
(1990) 49
Seite
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gelesen werden. Was Fontane bei Hilde Rochussen ausEllernklipp" noch ganz in der Symbolsprache der christlichen Religiosität versucht, erreicht in Effi Briest" im Bild eines Naturvorgangs seine vollendete Ausformung: die Erfüllung der melusinischen Sehnsucht nach Befreiung, nach Rückkehr in die Weite und Ruhe der Natur.

In Melusine von Barby schließlich ist, was an Bedrohlichem in der bloßen Existenz dieser Frauengestalten liegt, einer spielerischen Grazie gewichen. Ihre zweifellos vorhandene Distanz zum Natürlich-Triebhaften im Menschen (aus der ihre Ehe gescheitert ist) tritt weder als Apathie noch als unberechen­bare Selbstsucht in Erscheinung; sie ist, als Wissen um den eigenen Mangel, vielmehr einer Bereitschaft zur Duldung und Toleranz gewichen die sich sogar als Bekenntnis zu christlicher Demut ausspricht, wenn sie freilich auch als tiefe Gleichgültigkeit gegen den Fortbestand einer Familie in Erschei­nung tritt. Melusine hat, nicht anders als Oceane von Parceval, ein entschie­denes Bewußtsein ihrer Sonderrolle als einer prinzipiellen Geschiedenheit vom Bereich des Natürlich-Menschlichen; auch wenn es sich vielfach in den Ton spielerischer Koketterie kleidet, vermag es ihre Nähe zum Element allenfalls zu verhüllen, aber nicht wirklich zu verbergen oder gar aufzuheben. Sie tritt z. B. hervor in Melusines, wiederum in spöttisch-ironischem Ton vorgebrachten Bekenntnis zum gefährlichen Leben:Sonderbar, gefahrlose Berufe, solche, die sozusagen eine Zipfelmütze tragen, sind mir von jeher ein Greuel gewesen. Interesse hat doch immer nur das Vabanque: Torpedoboote, Tunnel unter dem Meere, Luftballons. Ich denke mir, das Nächste was wir erleben, sind Luft­schifferschlachten. Wenn dann so eine Gondel die andre entert. Ich kann mich in solche Vorstellungen geradezu verlieben "(I, 5, 156).

Diese geheime Nähe zum Element bekundet sich nicht zuletzt in Melusines heftiger Abwehr, als Dubslav ihr anbietet, das Eis des zugefrorenen Stechlin- Sees aufhacken zu lassen; jeder Eingriff ins Elementare erscheint der Ein­geweihten als frevelhafte Herausforderung.

Melusine von Barby ist aber nicht nur geistreich (wie Ebba von Rosenberg), sie besitzt auch Geist und gebraucht ihn. Sich ihrer Distanz zu den Grund­formen intimer Sozialität, Ehe und Familie, als eines Mankos bewußt, fällt ihr die Aufgabe zu, den individuell-privaten Bereich in Richtung auf historisch­soziale Allgemeinheit zu transzendieren: sie wird in der Konfiguration des Stechlin"-Romans die adäquate Gesprächspartnerin Pastor Lorenzens, die den in dem sagenhaften Naturphänomen des Stechlin-Sees liegenden politisch­sozialen Sinn ausspricht.

Damit vollzieht sie als einzige Melusinengestalt Fontanes wenigstens im Medium des Bewußtseins den Übertritt vom Naturhaften ins Geschichtliche. Durch sie wird der Mythos des Elementaren in eine Mythologie der Geschichte umgedeutet. Damit wird zugleich aber auch die Zeit als alleinige Kategorie der Geschichte als Fähigkeit, Neues zeitigen zu können zugunsten des Raumes relativiert, d. h. auf Naturhaft-Zeitloses zurückbezogen. Trifft es zu, daß im Mythos die Gebundenheit an den Raum die bestimmende Kategorie ist, dann bleibt auch die geschichtlich gemeinte Symbolik des Stechlin-Sees mythisch gebunden. Zumindest wird in ihr das geschichtlich Einmalige und Neue mit der Wiederkehr eines Naturphänomens verknüpft. Diese Verknüpfung wesentlich

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