durch einen mentalen Akt vorgenommen — ist Melusines Aufgabe. So erscheint, was als .Verzeitlichung des Raumes' gdmeint ist — als geschichtliche Ausdeutung eines Naturphänomens — ebenso als ,Verräumlichung der Zeit', als naturhaft-mythische Wiederkehr eines je und je sich erneuernden geschichtlichen Vorgangs.
Der „Stechlin" will nicht einen Endpunkt als das Ziel aller Geschichte fixieren, sondern die unaufhebbare Wechselbeziehung des Alten und des Neuen, des „Werdens im Vergehen" als unabschliefjbaren Prozeß geschichtlichen Lebens zur Anschauung bringen.
Fragt man abschließend, was Fontane veranlaßt haben mag, in den Weltentwurf sogenannter .realistischer' Gesellschafts- und Zeitromane mythische oder mythisierende Strukturen einzuarbeiten bzw., enger gefaßt, einige seiner Frauengestalten aus der doppelten Optik von „Mythus und Psychologie" darzustellen, dann wird man sich auf die historischen Voraussetzungen seiner Romankunst besinnen müssen. Sie auszubreiten, ist hier nicht der Ort; nur so viel; die Verengung der Lebenswirklichkeit, des Einzelnen wie der Gesellschaft im ganzen, auf den Bereich der Empirie (der am Modell der Naturwissen schäften gewonnenen Erfahrung), der Verlust vorgegebener Glaubenssicherheiten wie das Vordringen verdinglichender Rationalität in weite Bereiche des Lebens machen den Roman im 19. Jahrhundert zum Organ einer Welterfahrung, die, trotz dieser neu gewonnenen Erfahrungsbereiche, wesentliche Dimensionen der Wirklichkeit zu verlieren droht.
Eine von ihnen ist der Bereich der elementaren Natur, an die der Mensch auch als gesittetes Wesen, auch als .animal rationale' gebunden bleibt. Indem Fontane für einige seiner Frauengestalten auf Motive zurückgreift, die er in der Melusinen-Sage vorgebildet fand, bringt er in die helle Bewußtheit seiner Romanwelt den Pol eines gefährdenden, aber zur Ganzheit des Lebens gehörenden, rational nicht auflösbaren Dunkels. Inmitten der allseits bedingten Welt der Gesellschaft, als dem eigentlichen .Spielraum' seiner Romane, wird ein Moment des Unberechenbaren sichtbar. Die Natur als Elementarbereich bildet den Kontrapunkt des Spontanen und Nicht-Verfügbaren innerhalb der auf Konventionen und Regeln gestellten Weit der Gesellschaft.
Damit ist auch schon gesagt, daß Fontane mit seinen Melusinen nicht eine Art „Wesensbestimung" der Frau gegeben hat (es gibt ja genügend weibliche Gestalten in seinem Werk, die nicht am Melusinenhaften teilhaben). Nicht eine Ontologie des Weiblichen ist Fontanes Thema, sondern — zumal in seinen Gesellschaftsromanen — die Dialektik von Form und Unmittelbarkeit, Spontaneität und Konventionalität im Leben des einzelnen wie der Gesellschaft bzw. in den ihnen zugrunde liegenden Wertschätzungen. Mit Hilfe des Melusinen- Motivs und der .doppelten Optik' von Mythus und Psychologie konnte Fontane die eine Seite dieser Dialektik in weiblichen Figuren gestalten, in deren sozial wie psychologisch genau gezeichneten Bildern er mit Hilfe seines Melusine- Mythologems Züge einer tieferen, naturhaft-elementaren Bindung des Menschen sichtbar machen konnte.
Daß die Repräsentanten dieser Seite des Daseins dem weiblichen Geschlecht zugeteilt werden, entspricht dem allgemeinen Lebensgefühl der Zeit, das — bis weit über die Jahrhundertwende hinaus — den Gegensatz des Männlichen und
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