Weiblichen als Antinomie von Geist und Natur versteht. Noch die spätere jugendstilhafte Stilisierung der Melusine zur femme enfant * 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 — wie die ihrer dämonischen Halbschwester, der femme fatale — entsprechen diesem Deutungsmuster. In ihm entwirft der Mann sich selbst als dem Geist zugeordnetes, geschichtliches Wesen; wenn nicht als ,Held', so doch als Handelnder, der Bestehendes verändert, zumindest auf das Bestehende als ein geschichtlich Gewordenes bezogen ist. Die Frau dagegen steht nach diesem Schema außerhalb des eigentlich Geschichtlichen. Sie erreicht in den wechselnden Moden ihrer Kleidung allenfals dessen Oberfläche (so daß ihre Kleidung eigentlich Verkleidung ist). Sie hat teil an einer tieferen und ursprünglicheren Mächtigkeit der Natur, die im Mythos als ein lmmer-Seiendes erscheint, und die sich dem männlichen Zugriff entzieht, gerade dort, wo er sie planend zu ergreifen sucht.
Von dieser Dialektik weiß auch der Erzähler Fontane. Er gestaltet sie, indem er einige seiner weiblichen Figuren aus der Doppelperspektive von „Mythus und Psychologie" zu Melusinen stilisiert — und damit Tendenzen vorwegnimmt, die in der Kunst der Jahrhundertwende wie der Lebensphilosopie zentrale Bedeutung gewinnen.
Anmerkungen
Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der zuerst 1979 unter dem Titel „Melusine als Mythos bei Theodor Fontane” in dem von Helmut Koopmann herausgogebenen Sammelband Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Frankfurt am Main) erschienen ist. Für diesen Neudruck wurde die Formulierung Melusine als Mythologem gewählt, um die Gestalt der Melusine als mythologisches Element innerhalb eines umfassenderen Mythos (der Natur und des Menschen) genauer zu bezeichnen.
1 Die von Thomas Mann in den späteren Fassungen seines Essays gestrichene Stelle in: Die Zukunft, 73. Band (1910), S. 20 f. Wiederabgedruckt im Anhang meines Vortrages: „Verantwortungsvolle Ungebundenheit": Thomas Mann und Fontane. In: Thomas Mann 1875—197*?. Vorträge in München — Zürich — Lübeck. Hrsg, von B. Bludau, E. Heftrich und H. Koopmann, Frankfurt a. M. 1977, S. 343 f.
2 Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. 1974, Bd. IX, S. 33
3 Ebd.
4 Heinz Gockel, Mythologie als Ontologie. Zum Mythosbegriff im 19. Jahrhundert. In : Mythos und Mythologie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979, S. 25—58.
5 Gockel S. 29.
6 Vgl. zu diesem Thema vor allem die grundlegende Studie von Renate Schäfer, Fontanes Melu- sine-Motiv. In: Euphorien 56 (1962), S. 69—104, auf die im folgenden mehrfach Bezug genommen wird.
7 Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975. S. 71.
8 Alle Belege im Text (unter Angabe von Abteilungs-, Band- und Seitenzahlen) nach: Theodor Fontane, Sämtliche Werke. Hrsg, von Walter Keitel. München 1962 ff. Abt. I: Romane, Erzählungen, Gedichte 1.—6. Band; Abt. III: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. 1. Band, Aufsätze und Aufzeichnungen (1963); Abt. IV: Briefe. 3. Band (1879—1889), 4. Band (1890—1898), 1980, 1984.
9 Vgl. zu diesem Komplex: Hugo Aust, Theodor Fontane: „Verklärung". Eine Untersuchung zum Ideengehalt seiner Werke. Bonn 1974.
10 Ein köstliches Beispiel für Fontanes überlegene Distanz humanistisch-philologischen Kenntnissen gegenüber bildet sein Brief an Erich Schmidt (den Berliner Germanisten und eifrigen Förderer Fontanes) vom 25. Mai 1896; Fontane hatte — wie er vermutete, dutch Vermittlung E. Schmidts
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