Jahre sein mochte, wechselte mit ihm ab, sang Lieder und deklamirte; zuletzt erschien sie in einem kurzen Gazekleid, das mit Sternchen ' von Goldpapier besetzt war, und führte den Shawltanz auf, Die Hohen-Vietzer Bauern, ganz besonders die alten, waren wie benommen und streichelten das Kind mit ihren großen Händen. Es sollte ihnen bald Gelegenheit werden, ihr gutes Herz noch weiter zu zeigen.
Der „starke Mann" war längst kein starker Mann mehr; er war siech unß krank. Er legte sich und es ging rasch bergab. Pastor Seidentopf saß an seinem Bett und sprach ihm Trost zu; der Sterbende aber, der wohl wußte, wie es mit ihm stand, schüttelte den Kopf, zog den Pastor näher an sich heran und sagte fest: „Ich bin froh, daß es zu Ende geht." Dann wies er mit einer leisen Seitwärtsbewegung des Kopfes auf die Kleine, die am Fenster saß, preßte beide Hände aufs Herz und setzte mit halberstickter Stimme hinzu: „Wenn nur das Kind nicht wäre." Dabei brach er, alle Kraft über sich verlierend, in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Die Kleine, als sie das Weinen hörte, kam herzu gesprungen und küßte in leidenschaftlicher Liebe die Hand des Sterbenden. Dieser streichelte ihr das Haar, sah sie an und lächelte. Es war, als ob er in eine lichte Zukunft geblickt hätte. So starb er. Auf dem Tische neben ihm stand die kleine Zauberkommode, aus der immer die Tauben aufflogen. Pastor Seidentopf war tief erschüttert.
An die Hohen-Vietzer aber traten jetzt zwei Fragen heran, von denen es schwer zu sagen, welche die Gemüther mehr beschäftigte. Die erste Frage war: „Was machen wir mit dem Todten?" Die alten Wendenbauern waren gutmüthig, aber sie dachten doch ernst in solchen Sachen. Den starken Mann blos einzuscharren, erschien ihnen als unthnnliche Härte, ihn aber auf ihrem christlichen Kirchhofe zu begraben, als noch un- thunlichere Entweihung. War er überhaupt ein Christ? Die Mehrzahl zweifelte. Da fand Pastor Seidentopf unter dem Kopfkissen des Todten eine Tasche mit allerhand Papieren, auch Tauf- und Trauschein. Die Briefe gaben weiteren Aufschluß. Es zeigte sich, daß er Schauspieler gewesen war, daß er eine Tochter aus gutem Hause wider den Willen der Eltern geheirathet hatte, und daß die Frau schließlich hingestorben war in Gram und Elend, aber ohne Vorwurf und ohne Reue. Die letzten Briefe, viel durchlesene, waren aus einem schlesischen Klosterspitale datirt. Ein gescheitertes Leben sprach aus allen, aber kein unglückliches, denn was sie zusammen geführt hatte, hatte Noth und Tod überdauert.
Pastor Seidentopf, als er die Briefe gelesen, trat wieder unter seine Bauern, die unten im Krug seiner harrten, und am dritten Tage hatte der starke Mann ein christliches Be- gräbniß, als ob er ein Kümmeritz oder ein Miekley gewesen wäre. Die Schulkinder sangen ihn hügelan, trotzdem ein großes Schneetreiben war, Frau von Vitzewitz, gütig wie immer, stand mit am Grabe und warf dem Todten die erste Hand voll Erde nach, Berndt von Vitzewitz aber ließ ihm ein Kreuz errichten, darauf folgender vom alten Küster Jeserich Kubalke gedichteter Spruch zu lesen war:
Ein Stärk'rer zwang den starken Mann.
Nimm ihn Gott in Gnaden an.
So erledigte sich die erste Frage. — Die zweite Frage war: „Was machen wir mit dem Kinde?" Pastor Seidentopf erwog die Frage hin und her; hundert Pläne gingen ihm durch den Kopf, aber keiner wollte passen. Die Bauern waren scheu und schwierig. Da trat Schulze Kniehase dazwischen, und das weinende Kind vom Krug aus in sein Haus hinüber führend sagte er: „Mutter, die schickt uns Gott."
Und am anderen Tage, weil es dicht vor dem Christfest war, begann er ihr einen Baum zu putzen, und nannte sie seine Weihnachtspuppe und sein Zauberkind.
Die Bauern sahen anfangs ängstlich zu; „sie wird ihm wegfliegen", meinten die einen, „und das wäre noch das beste", versicherten die anderen. Aber sie flog nicht fort, und Pastor Seidentopf sagte: „Sie wird ihm Segen bringen, wie die Schwalben am Sims."
„Sie wird dem Hause Segen bringen, wie die Schwalben am Sims," so hatte Prediger Seidentopf gesprochen, und seine Worte sollten in Erfüllung gehen. Das Kopfschütteln der Bauern nahm bald ein Ende. Es geschah das, was unter ähnlichen Verhältnissen immer geschieht: dunkle Geburt, seltsame Lebenswege, wie sie den Argwohn wecken, wecken auch das Mitgefühl, und ein schöner Trieb kommt über die Menschen, ein unverschuldetes Schicksal auszugleichen. Der Zauber des Geheimnisvollen unterstützt die wachgewordene Theilnahme.
Das erfuhr auch Marie. Ehe noch der erste Winter um war, war sie der Liebling des Dorfes; keiner spöttelte mehr über das Gazekleid mit den Goldpapiersternchen, in dem sie zuerst vor ihnen aufgetreten war. Vielmehr erschien ihnen jetzt dieser bloße Hauch einer Kleidung als ihr natürliches Kostüm, und wenn Schulze Kniehase, der das Kind von Anfang an über die Maßen liebte, drüben im Kruge saß und halb ernsthaft halb scherzhaft versicherte, „sie sei ein Feenkind", so widerredete niemand, weil er nur aussprach, was alle längst schon an sich selbst erfahren hatten. Daß sie fortstiegen würde, daran glaubte freilich niemand mehr, mit alleiniger Ausnahme der Mädchen in den Spinnstuben, die voll Spuk- und Gespenster- bedürfniß immer Neues und Wunderbares von ihr zu erzählen wußten. Und nicht alles war Erfindung. So hatte sie wirklich eine unbezwingbare Vorliebe für den Schnee. Wenn die Flocken still vom Himmel fielen, oder tanzten und stöberten, als würden Betten ausgeschüttet, dann entfernte sie sich aus dem Vorderhause, kletterte die lange Schrägleiter hinauf, die bis auf den First des Scheunendaches führte, und stand dort oben schnee- umwirbelt. Die Mädchen versicherten auch, sie hätten sie singen hören. Es bedarf keiner Ausführung, welche phantastisch weitgehenden Schlüsse daraus gezogen wurden.
So war es im Winter. Als der Sommer kam, der eine freiere Bewegung gönnte, gewann sie vollends alle Herzen. Sie besuchte nicht nur die einzelnen Bauerhöfe, sondern auch die ausgebauten Loose, die weiter ins Bruch hineinlagen, spielte mit den Kindern und erzählte Geschichten. Das Fremde und Geheimnißvolle, das sie von Anfang an gehabt hatte, blieb ihr, aber niemand wunderte sich mehr darüber. Auch die Dorfmädchen nicht. Einmal verirrte sie sich; im Kniehaseschen Hause war große Aufregung; alles lief und suchte bis an die Oder hin. Endlich fand man sie, keine tausend Schritt vom Dorfe.
Sie lag schlafend im Korn, ein paar Mohnblumen in der Hand; ein kleiner Vogel saß ihr zu Füßen. Niemand kannte den Vogel, als er anfflog und aller Augen ihn verfolgten. „Der hat sie beschützt!" sagten die Hohen-Vietzer.
In der Regel spielte sie auf dem Abhange zwischen der Kirche und dem Dorfe, am liebsten auf dem Kirchhofe selbst.
Sie las die Inschriften, umarmte den Rasen von ihres Vaters Grabe, kletterte auf die hohe Feldsteinmauer und sah auf die Segel der Oderkähne nieder, die, angeglüht von der sich neigenden Sonne, unten auf dem Strome vorüberzogen. Kam dann des alten Küsters Kubalke Magd, um zu Abend zu läuten, so folgte sie dieser, zog ein Paar mal mit an dem Glockenstrang und huschte dann in die schon halbdunkle Kirche hinein. Hier setzte sie sich mit halbem Körper auf das äußerste Ende der Frontbank, auf der am Tage nach der Kunersdorfer Schlacht ein Major vom Regiment Jtzenplitz verblutet war, blickte seitwärts scheu nach dem dunkeln Fleck hinüber, der nicht wegzuschaffen war, und sah dann endlich, um das selbstgewollte ! Grauen wieder von sich zu bannen, nach dem großen Vitzewitz- schen Marmorbilde hinüber, das die Inschrift trug: „so Du bei mir bist, wer will wider mich sein". So blieb sie, bis der Glockenton verklang. Dann trat sie wieder auf den Kirchhof hinaus, sah der Magd nach, die den Schlängelpfad ins Dorf herniederstieg und umkreiste scheu aber immer enger und enger die alte Buche, deren zweigetheilter Stamm, der Sage nach, an den Bruderzwist der Vitzewitze gemahnte. Fiel dann ein Blatt, oder flog ein Vogel auf, so fuhr sie zusammen.
Es waren schöne Tage, dieser erste Sommer in Hohen- Vietz; aber diese schönen Tage konnten nicht dauern. Die Schulzenleute, Mann wie Frau, hatten längst ihre Sorge dar-