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über. All dies Umherstreifen währte schon zu lange; Arbeit, Ordnung, Schule, mußten an feine Stelle treten. Aber wie? Beide Kniehases waren weitab davon, ein Prinzeßchen aus ihrem Pflegekind machen zu wollen, aber eben so bestimmt fühlten sie auch, daß die Dorfschule kein Platz für sie sei. Sie paßte nicht unter die Holzpantoffelkinder, ganz abgesehen davon, daß sie, ohne je eine Schulstunde gehabt zu haben, um ein Beträchtliches besser lesen konnte, als der alte Jeserich Kubalke, zumal wenn er seine Hornbrille vergessen hatte.
In dieser Noth half die gute Frau von Vitzewitz. Sie hatte längst daran gedacht, das sonderbare Kind, von dessen phantastischem Wesen sie so manches gehört hatte, als Spiel- und Schulgenossin Renatens in ihr Haus zu ziehen, allerhand Erwägungen aber, die dagegen sprachen, hatten es damals nicht dazu kommen lassen. Der Kniehasesche Pflegling, so gewinnend er sein mochte, war doch immer eines Taschenspielers, im günstigsten Falle eines verarmten Schauspielers Kind, und so wenig sie persönlich einen Anstoß daran nahm, so glaubte sie dennoch in Erziehnngsfragen weniger ihr eigenes, durchaus freies und vornehmes Empfinden, als vielmehr allgemeine, aus Pflicht und Erfahrung hergeleitete Anschauungen zu Rathe ziehen zu müssen. So zerschlug es sich denn wieder. Pastor Seidentopf hätte es freilich wohl schon damals in der Hand gehabt, einen andern Ausgang herbeizusühren; er wollte jedoch, in einer so verantwortungsvollen Angelegenheit, nicht ungefragt eingreifen und zog es vor, sich die Dinge selber machen zu lassen.
Und sie machten sich auch, und zwar in sehr eigenthnm- licher Weise. Am Rande des Vitzewitzschen Parks, schon in einiger Erhöhung, stand eine Florastatue und sah einen breiten Kiesweg hinunter auf die Gartenfront des Herrenhauses. Zu Füßen der Statue waren fünf dreieckige Blumenbeete angelegt, die in ihrer Gesammtheit einen einsassenden Halbkreis bildeten. An dieser Stelle hatte Marie, bei ihren täglichen Streifereien, häufig ein paar Blumen gepflückt, Balsaminen oder Reseda, und war dabei niemals einem Verbot begegnet. Im Gegen- theil. Der Gärtner, des zierlichen und fremdartigen Kindes sich freuend, hatte ihr zugenickt und einmal sogar ihr ein paar Fuchsia-Knospen über das linke Ohr gehängt. Nun war es September geworden; die rothen Verbenen blühten und dazwischen, aus eingegrabeuen Töpfen, wuchsen ein paar unschein bare Blumen auf, die dem spielenden Kinde als dunkle Vergißmeinnicht erschienen. Sie pflückte sie ab. Es war aber Heliotrop, damals noch etwas seltenes, und Frau von Vitzewitz wollte wissen, wer ihr das angethan und sie um den Anblick ihrer Lieblingsblume gebracht habe. Als Marie davon hörte, faßte sie rasch einen Entschluß. Sie setzte sich auf eine Bank, in unmittelbarer Nähe der Statue, und als Frau von Vitzewitz auf ihrem Spaziergang den breiten Kiesweg hinaufschritt, sprang sie ans, eilte der Herankommenden entgegen, küßte ihr die Hand und sagte: „Ich habe es gethan." Sie war dabei hochroth und zitterte, aber sie weinte nicht. Von diesem Augenblick an war die Freundschaft geschlossen. Frau von Vitzewitz streichelte ihr das Haar und sah sie fest und freundlich an; dann führte sie sie zu der Bank zurück, von der sie aufgestanden war, stellte Fragen und ließ sich erzählen. Alles bestätigte ihr den ersten Eindruck. So trennten sie sich. Noch am selben Nachmittage aber sagte Frau von Vitzewitz zu Seidentopf: „Das ist ein seltenes Kind," und ehe acht Tage um waren, war sie die Spiel- und Schulgenossin Renatens.
Sie war anfangs zurück; alles was sie konnte, war eben lesen und deklamiren. Aber ihre schnelle Fassungsgabe, durch Gedächtniß und glühenden Eifer unterstützt, gestattete ihr das Versäumte wie im Fluge nachzuholen, und ehe noch ein halbes Jahr um war, war sie in den meisten Disziplinen Renaten gleich. Und wie sie den von Frau von Vitzewitz a.^ ihre Fähigkeiten geknüpften Erwartungen entsprach, so auch denen, die sich auf ihren Charakter bezogen. Sie war ohne Laune und Eigensinn; etwas Heftiges, das sie hatte, wich jedem freundlichen Wort. Die beiden Mädchen liebten sich wie Schwestern.
Nichts war mißglückt, über Erwarten hinaus hatten sich die Wünsche der Frau von Vitzewitz erfüllt, dennoch stellten sich immer wieder Bedenken bei ihr ein, die freilich jetzt nicht mehr
das Glück Renatens, sondern umgekehrt das Glück Mariens betrafen. Es galt, nicht nur den Augenblick, sondern auch die Zukunft befragen. Wie sollte sich diese gestalten? War es recht, dem Schnlzenkinde die Erziehung eines adeligen Hauses zu geben? Wurde Marie nicht in einen Widerspruch gestellt, an dem ihr Leben scheitern konnte? Sie theilte diese Bedenken ihrem Gatten mit, der, von Anfang an dieselben Skrupel hegend, sofort entschlossen war, mit Schulze Kniehase, zu dessen Verständigkeit er ein hohes Vertrauen hatte, die Sache auszusprechen.
Berndt ging in den Schulzenhof, traf Kniehase mitten in Rechnungsabschlüssen, die das nach Küstrin hin gelieferte Stroh- nnd Hafer-Quantum betrafen, rückte mit ihm in die Fensternische und stellte ihm alles vor, wie er es mit der Frau von Vitzewitz besprochen hatte.
Schulze Kniehase hörte aufmerksam zu, dann sagte er, als sein Gutsherr schwieg: er habe sich's, als von der Sache zuerst gesprochen wurde, auch überlegt, ob er dem Kinde nicht die Ruhe nehme, die doch mehr sei als alles Lernen und Wissen. All sein Neberlegen aber habe doch immer wieder dahin geführt, daß es das Beste sein würde, die gnädige Frau, die es so gut meine, ruhig gewähren zu lassen. So sei es ein halbes Jahr gegangen. Es jetzt nun nach der entgegengesetzten Seite hin zu ändern, sei nur rathsam, wenn es der ausgesprochene Wille der gnädigen Frau sei. Sein eigener Wunsch und Wille sei es schon seit Monaten nicht mehr; die Bedenken, die er anfangs gehabt, seien mehr und mehr von ihm abgefallen. Er wisse auch wohl warum. Das Kind, das ihm die Hand Gottes fast auf die Schwelle seines Hauses gelegt habe, sei kein bäuerlich Kind; es sei nicht bäuerlich von Geburt und nicht bäuerlich von Erscheinung. Er säße so mitunter in der Dämmerstunde und mache sich Bilder, wie auch wohl andere Leute thäten, aber wie vielerlei auch an ihm vorüber zöge, nie sähe er seine Marie mit geschürztem Rock und zwei Milcheimern unter dem Zurufe lachender Knechte über den Hof gehen. Er liebe das Kind, als ob es sein eigen wäre; aber er betrachte es doch als ein fremdes, das eines Tages ihm wieder abgcfordert werden würde. Nicht von den Menschen, wohl aber von der Natur. Es wird so sein, wie mit den Enten im Hühnerhof, die eines Tages fortschwimmen, während die Henne am Ufer steht.
Als Kniehase so gesprochen, hatte ihm Berndt von Vitzewitz die Hand gereicht, und im Herrenhause schwiegen von jenem Tage an alle Bedenken.
Auch der Tod der Frau von Vitzewitz, schmerzlich wie er von Marie empfunden wurde, änderte nichts in ihrem Ver- hältniß zu den Zurückgebliebenen. Tante Schorlemmer kam ins Haus und frei von jener Liebedienerei, die sich in Bevorzugung Renatens hätte gefallen können, betrachtete sie vielmehr beide Mädchen wie Geschwister und umfaßte sie mit gleicher Herzlichkeit.
Nach der Einsegnung hörten die Unterrichtsstunden auf, aber die beiden Mädchen waren zu innig an einander gekettet, als daß der Wegfall dieses äußerlichen Bandes das Geringste an ihrer Verkehrs- und Lebensweise hätte ändern können. Der Geburts- und Standesunterschied wurde von Renate nicht geltend gemacht, von Marie nicht empfundeu. Sie sah in die Welt wie in einen Traum und schritt selber traumhaft darin umher. Ohne sich Rechenschaft davon zu geben, stellten sich ihr die hohen und niederen Gesellschaftsgrade als bloße Rollen dar, die wohl dem Namen nach verschieden, ihrem Wesen nach aber gleichwerthig waren. Es war im Zusammenhänge damit, daß unter allen Bildern, die sich im Vitzewitzeschen Hause befanden, eine Nachbildung des „Lübecker Todtentanzes", bei allein Erschütternden, doch zugleich den erhebendsten Eindruck auf sie gemacht hatte. Die Predigt von einer letzten Gleichheit aller irdischen Dinge sprach das aus, was duntel in ihr selber lebte. Dabei war sie ohim Anspruch und ohne Begehr. Alles Schöne zog sie an; aber es drängte sie nur . an Theil zu nehmen, nicht es zu besitzen. Es war ihr wie der Sternenhimmel; sie freute sich seines Glanzes, aber sie streckte nicht., die Hände danach aus.
Diese Uubegehrlichkeit hatte sich auch an ihrem sechzehnten