Heft 
(1878) 17
Seite
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Hände in den Schoß legten, weil sie einsahen, daß hier mit menschlicher Kraft nicht zu helfen sei. So rollte denn der un- gebändigte, ich möchte sagen, führerlose Zug in grausiger Eile den Berg hinunter, über schauerliche Felsspalten, über ächzende Brücken und in scharfen Windungen an Abgründen vorbei, die 2000 bis 3000 Fuß tief wie Höllenschlünde mich angähnten. Riesige Zuckerfichten, nur am Gipfel beleuchtet von dem unter­gehenden Mond, ragten aus den Schlünden empor, wie Recken der Sagenwelt, die allnächtlich aus den Bergen steigen, ihr Reich gegen das nimmer ruhende, alle Geheimnisse durchdringende Menschengeschlecht zu vertheidigen. Und meine Gefährten? Ja die lagen alle, alle in süßem Schlummer und ahnten nichts von der grausigen Fahrt, die sie mitmachten. Ein Steinchen nur, ein kleines Hinderniß und eine Katastrophe, wie sie fürchter­licher noch nicht in der Geschichte der Eisenbahnen vorgekommen, hätte uns alle zu sicherem Verderben verurtheilt.

Doch sei hier zum Ruhm der Central-Pacisicbahn gesagt, daß sich unter ihrer umsichtigen Leitung, trotz der Schwierigkeit und Gefährlichkeit ihres Betriebes, noch kein ernstlicher Unfall ereignet hat. Man darf sich dieser Bahn ruhig anvertrauen.

Bon Summitstation bis Sacramento, eine Strecke von nur 105 englische Meilen, die in weniger als 4 Stunden zurück­gelegt werden, fällt das Geleise 7000 Fuß, woraus man er­messen möge, mit welcher Schnelligkeit der Zug abwärts fährt.

In Sacramento, der politischen Hauptstadt Californiens, erreichen wir die sogenannte californische Ebene; es ist aber nur ein breites Thal, denn Californien besitzt keine Ebenen im wirklichen Sinne des Wortes. Hier endet nun die Eisen­

bahnfahrt des Emigranten, während die Passagiere des Expreß­zuges bis nach Oakland fahren, wo sie vermittelst einer Dampf­sähre über die Bay nach dem gegenüberliegenden San Franzisko gebracht werden.

Der Emigrant dagegen macht die zehnstündige Fahrt nach dem noch 138 Meilen entfernten San Franzisko mit dem Dampfboot auf dem Sacramentofluß und findet dadurch Ge­legenheit seine Glieder auszurecken, und den Fluß hinunter­gleitend, den fruchtbarsten aber auch zugleich den ungesundesten Landstrich Californiens kennen zu lernen. Sehr verschieden ist der Eindruck, den Californien auf den Reisenden macht, der es zum ersten Male betritt. Kommt er in den Monaten Februar, März und April, so findet er grüne Berge, blumige Gründe, blühende Obstgärten und schmucke Saatfelder, so lange er sich nämlich in den bebauten Thälern bewegt. Kommt er aber in den übrigen neun Monaten des Jahrs, dann sieht er kahle Höhen, vertrocknete Felder, verstaubte Bäume und eine Lust, wie sie ist, wenn es in 5 6 Monaten keinen Tropfen geregnet hat. Daher denn auch die vielen widersprechenden Urtheile, die schon von solchen Reisenden über Californien ab­gegeben wurden, die nur kamen, um nach kurzem Aufenthalt wieder Adieu zu sagen.

Doch da haben sich die gelben Wasser des Sacrameuto- slusses schon mit der grünen Salzflut der Bay vermischt, eine kurze Fahrt noch und da leuchtet sie hinter dem Masten­walde hervor, die Metropole des Westgestades, die sich stolz die Goldstadt nennt.

San Franzisko, im Dezbr. 1877. H. Semler.

Are modernen dialektischen Dichtungen und die Spracheinheit.

Von Robert Kübel.

Nachdruck verboten. Ges. v. ll./IV. 70.

Es ist nicht im geringsten die Absicht dieses kleinen Auf­satzes, die neueren dialektischen Literatnrprodukte, insbesondere die Dichtungen dieser Kategorie einer eingehenden Untersuchung und Würdigung zu unterziehen. Vielmehr möchte er in dieser Beziehung nur auf einen Punkt aufmerksam machen, welcher unseres Wissens noch nicht so, wie er es verdient, beachtet wor­den ist. Mir scheint nämlich der Umstand, daß gerade die Neuzeit in Deutschland mehr als früher Dichtungen in der Stammesmundart hervorgerufen hat, und zwar größtentheils solche, welche vom gebildeten Lesepublikum sehr günstig ausge­nommen worden sind, überhaupt ein beachtenswerthes Zeichen unserer Zeit, gleichsam ein Uhrenzeiger zu sein, der uns weist, wie viel Uhr es geschlagen hat mit dem Verhältniß von Individualität und Einheit im Sprachleben un­seres deutschen Volkes. In der Sprache drückt sich am sichersten erkennbar der Charakter, die ganze Tendenz eines Volkes aus. Sprachliche und literarische Erscheinungen sind ein sicheres Kennzeichen davon, was der, meist ganz unbewußt, im Geheimen schaffende Geist eines Volkes will, und sie lassen auch für die Zukunft ziemlich sicher ahnen, was das Resultat der geistigen Entwickelung sein wird. Die Erscheinung nun, daß gegenwärtig mehr als früher dialektische, also der Stam- meseigenthümlichkeit im Unterschied von der Volkseinheit entsprossene Literaturprodukte zu Tage treten und Eingang finden, scheint mir es mag das paradox klingen, ich will es aber zu beweisen suchen ein Beweis dafür zu sein, daß zwar in Deutschland die Stammeseigenthümlichkeiten noch mit Macht sich sprachlich gegenüber der Einheit zu behaupten suchen, daß sie aber im ganzen unrettbar dem Ueberwundensein verfallen, von der nivellirenden Einheit verschlungen zu werden sicher sind.

Werfen wir zuerst einen kurzen, nur einige Hauptpunkte ins Auge fassenden Blick auf die Thatsache, von der wir aus­gehen, daß nämlich wirklich die dialektischen Dichtungen gegen­wärtig in Deutschland eine größere Rolle spielen als früher. Gehen wir bis ins erste Drittel unseres Jahrhunderts zurück, so steht hier fast in einsamer Größe in Bezug auf dialektische Dichtung, der köstliche I. P. Hebel oben an mit seinenalle- mannischen Gedichten". Es genügt, an Goethes Urtheil über dieselben zu erinnern, um ihren hohen Werth zu kennzeichnen. Hebel ist auch dadurch klassisch für diese Art von Dichtung ge­

worden, daß er die richtige psychologische Basis für die- ^ selbe, das Gemüth und den Humor gewonnen und auf das glücklichste verwerthet hat. Daher kommt es auch, daß er ! fast durchaus, im weiteren Sinne des Wortes genommen, Ge- ^ legenheitsgedichte bekanntlich nach Goethes Ausspruch die i

berechtigtsten Gedichte geschaffen hat. Erst ziemlich lange !

nach Hebel traten bedeutendere Leistungen dialektischer Dich­tungsart auf anderen deutschen Gebieten hervor. Wir nennen ! nur aus dem deutschen Norden die beiden großen plattdeut­schen Dichter, den Liebling der deutschen Nation, Fritz Reu- j ter und den neben ihm zu wenig gelesenen Claus Groth. Merk­würdig ist, daß die plattdeutsche Mundart auch auf einem ganz ^

anderen Gebiete der Literatur Eingang gewonnen hat, auf dem !

der Predigt, vor allem durch L. Harms. Im Süden hat ^

Hebel verschiedene, ihm allerdings nicht gleichkommende Nach- s

folger gefunden, so namentlich Fr. Kobell mit seinen Ge- ^

dichten in oberbairischer und pfälzischer Mundart, und dann s einige Schwaben, von denen Nefflens Romander Vetter aus s Schwaben", namentlich aber Grimmingermei Derhoim" ^ undLuginsland", und endlich das neueste schwäbisch-mund- örtliche Produkt, dieGschichten aus'm Schwobeland" von den Brüdern Weitbrecht angeführt sein mögen. Unter den ge­nannten Schwaben scheint uns Grimminger am höchsten zu stehen; Refften nicht blos, sondern auch die beiden Weitbrecht sind denn doch trotz alles Echten und Gelungenen, was sie bieten, fast zu derb, wie sie denn auch ihre Stoffe nur aus den bäuerlichen Kreisen wählen. Es entsteht dadurch, beiläufig ge­sagt, auch den Nichtschwaben gegenüber der fatale Schein, als ob alle Schwaben dieses derbe Deutsch redeten, während es in der schwäbischen Mundart unendliche Nüancen gibt. Um end­lich auch einem, von uns in vielem nur zu sehr getrennten Bruderstamm gerecht zu werden, seien und zwar mit der Bemerkung, daß diese Produkte älter als die genannten sind die vlämischen Dichter, namentlich H. Conscience noch angeführt.

Wenn man ja abwägen will, ob der deutsche Norden oder der deutsche Süden in den mundartlichen Dichtungen den höheren Rang behauptet, so wird gewiß jeder, ob Nord- oder Süddeutscher, einem von allen, Fritz Reuter, die Palme reichen. Ueberhaupt muß das Plattdeutsche schon deswegen für unsere ganze Frage die erste Rolle spielen, weil dieser Dialekt von weit mehr Deutschen