- 278
(etwa 8 Millionen) gesprochen wird, als irgend ein anderer. Immerhin kann einer der Süddeutschen, zwar weit nicht der Quantität, aber der Qualität seiner Leistungen nach, sich neben Reuter, mit dem er schon manchmal in Parallele gestellt wurde, sehen lassen, das ist Hebel. Allein, was viel wichtiger ist, als solch etwaiger Rangstreit zwischen Nord und Süd, möchte Folgendes sein: Trotz allem Respekt vor unseren modernen Dichtern, namentlich auf lyrischem und epischem Gebiet, und speziell auf dem Gebiet des Romans, wir haben auf dem Gebiet der neueren hochdeutschen Dichtung keinen Klassiker im eigentlichen Sinne des Wortes — selbst ein Gustav Freytag kann diesen Rang nicht beanspruchen. Dagegen auf dem Gebiete der mundartlichen Dichtung haben wir einen Klassiker. Denn daß Fritz Reuter das ist, kann niemand bestreiten, und selbst Hebel ist in gewissem Sinne klassisch. Es liegt ja dies in der Natur der Sache; für das sogenannte Hochdeutsche sind unsere Klassiker- längst da, für das Mundartliche mußten sie erst kommen. Und merkwürdig ist es, daß sie gekommen sind; ob sie an die Größe der „eigentlichen Klassiker" hinanreichen, diese Frage thut nichts zur Sache. Epigonen sind es auf keinen Fall, sie haben aber schon Epigonen erzeugt.
Es gibt nun Leute genug, welche der dialektischen Dichtung überhaupt mehr oder weniger das Existenzrecht absprechen, welche wenigstens nur sehr ungern sich der Thatsache fügen, daß sie sich ihr Existenzrecht erobert hat. In einem Punkte kam man nun nicht umhin, einigen Bedenken gegen die dialektische Dichtung Raum zu geben. Der Dialekt ist sicher berechtigt als eigenthümliche, der Stammesindividualität entsprechende Sprache, mündlich gesprochen im Verkehr von Ohr zu Ohr. Ist er es aber auch als geschrieben? Mit anderen Worten: die Berechtigung der Mundart als solcher, führt sie auch an sich die Berechtigung der mundartlichen Literatur mit sich? Hängt nicht die Mundart ganz an dem Orte der Heimat, an allen möglichen, oft kleinen Verhältnissen, an der stammeseigenthümlichen Lebensweise w. so sehr, daß sie, aufs Papier gebracht und dadurch den Grenzen der Heimat und dem unmittelbaren Klang des Ohres entrückt, ihr Recht und ihren Reiz verliert? Läßt sich nicht heute noch jeder Reuter- Schwärmer seine „Stromtid" re. zehnmal lieber vorlesen, also seinem Ohr unmittelbar nahe bringen, ja, wenn er niemand anders hat, liest man dann ihn nicht lieber sich selbst laut vor, als daß man ihn nur still lesend genösse? Und dazu kommt, daß manche Dialekte sich gar nicht zum Druck eignen. Vom Schwäbischen kann das der Verfasser, der selbst Schwabe ist, mit bestem Gewissen versichern; gerade die neueste schwäbisch-mundartliche Produktion, die Weitbrechtschen Geschichten haben ihn aufs neue davon überzeugt, daß man fast, um das Schwäbische schriftlich zum richtigen Ausdruck zu bringen, erst ein schwäbisches Alphabet erfinden müßte. Sollte am Ende ein Plattdeutscher, wenn nicht im gleichen Maße, doch auch ähnliches von dem „Plattdütsch, wie man's gedruckt liest" sagen? Alle diese Bedenken können uns nun freilich angesichts der unleugbaren Thatsache einer sehr respektabeln mundartlichen Literatur- unmöglich zu der extremen Behauptung bringen, die mundartliche Literatur sei an sich etwas Ungesundes, eine Verirrung, ein ungutes Zeichen unserer Zeit rc.; wohl aber müssen sie ganz sicher zu dem Satz nöthigen: vollberechtigt, aber auch nur berechtigt ist mundartliche Literatur dann, wenn sie genau die ihr durch ihre Heimat, ihre Stammeseigenthümlichkeit w. gezogenen Grenzen einhält, wenn sie allgemein Giltiges, z. B. allgemein Deutsches, ja allgemein Humanes genau nur in der Ausprägung gibt, wie sich dasselbe, nicht blos in der Form, sondern auch in der Auffassung der Sache, in der betreffenden Stammesheimat gestaltet hat. Ein, wie ich glaube, schlagendes Beispiel kann, was ich meine, verdeutlichen. Thö- richte Leute haben es schon Hebel, dem protestantischen Prälaten, übel nehmen wollen, daß seine Gedichte fast nur katholisches Leben zur Darstellung bringen, ja daß er ganz behaglich „'s ist zum lutherisch werden" sagen kann. Aber der alle- mannische Dialekt wird nun eben einmal größtentheils von Katholiken gesprochen; Hebel hat also ganz vollkommen richtig gehandelt, wenn er als Allemanne sozusagen katholisch wurde.
In der mundartlichen Literatur behauptet sich die Stammeseigenthümlichkeit. Und mit Recht; sie verdient ein solches Behauptetwcrden, eben auch in der Literatur. Es ist unleugbar, daß eine Menge echt poetischer Anschauungen und Ausdrücke mit Aufgeben der Mundart fast verloren gehen. Wenn die Leute gemüthlich werden, sagt F. Reuter einmal, so gerathen sie ins Plattdütsch; daß es einem Schwaben ebenso geht, werde nicht blos ich bezeugen. Der natürliche Erguß dessen, deß das Herz voll ist, jenes „von der Leber weg reden" führt, selbst wenn kein Dialekt mehr da wäre, von selbst zu solchen Nüancirnngen der einheitlichen Sprache, die eben jener Eigenthümlichkeit entsprechen. Und daß dann dieser Dialekt sein Recht auch literarisch behauptet, kann, wenn es in den angegebenen Schranken geschieht, nicht beanstandet werden. Aber nun, wir fürchten — und dieser Satz wird nun nicht mehr unbewiesen genannt werden können: je mehr ein Dialekt glaubt sich literarisch aussprechen und behaupten zu müssen, um so mehr ist dies ein Zeichen, daß er bereits um seine Existenz kämpfen muß. So lange ein Dialekt sozusagen die unbestrittene Herrschaft in seinem Gebiet hat, so lange wird er niemals in bedeutenderer Weise, namentlich nicht in massenhafteren Produktionen, literarisch auftreten. Häufigeres Hervortreten mundartlicher literarischer Produkte hat seinen Psychologischen Grund in einem inneren Dualismus, in welchem sich die Verfasser befinden zwischen der, ihnen als „Gebildeten" nothwendigen einheitlichen, hochdeutschen Ausdrucksweise und der ihnen als „Plattdeutschen, Pfälzern, Baieru, Schwaben" :c. lieben mundartlichen Redeweise. Ich behaupte: zu mundartlicher Dichtung führt einen bedeutenden Menschen ein gewisses inneres Weh, das ihn beschleicht bei dem Gedanken: ich und jeder Gebildete soll um jeden Preis hochdeutsch reden und schreiben, und doch ist meine Heimatsprache so schön; so schön, daß ich's der Welt zeigen will, was sie ist. Ob das dem betreffenden schaffenden Geiste ganz in dieser Weise zum Bewußtsein kommt, macht nichts aus; die mundartliche Literatur ist eine Reaktion der Stammeseigenthümlichkeit, die sich über Gebühr beengt fühlt, gegen das Nivellement der Spracheinheit.
Da wäre nun freilich die Thatsache zu erweisen, daß in der That die Spracheinheit, das sogenannte Hochdeutsche gegenwärtig die Dialekte zu verdrängen droht. Ich kann natürlich in dieser Beziehung zunächst nur von Süddeutschland, speziell Schwaben aus als einer, der Erfahrung hat, reden. Und da ist die genannte Thatsache unleugbar. In Schwaben spricht man zwar, auch in gebildeten Kreisen, noch immer ganz ordentlich schwäbisch; allein sobald wir Schwaben nicht, wie mau bei uns sagt, „unter uns Pfarrtöchtern" sind, strengen wir uns wenigstens entsetzlich an, „gutdeutsch" zu reden. Ob's immer gelingt, ist eine andere Frage; aber Faktum ist: das, was z. B. norddeutsche Besucher bei uns zu hören bekommen, ist vielleicht nach ihren Begriffen „schwäbisch", nach unseren „hochdeutsch". Und selbst auch da, wo nur Schwabenblut, unver- mischt und echt, in einer „gebildeten" Gesellschaft vertreten ist, wird nicht rein schwäbisch mehr gesprochen, auch nicht das Schwäbisch, das bei uns, wenn man sich gehen läßt, die Angehörigen der mittleren und höheren Stände reden (geschweige das bäuerliche Schwäbische), sondern ein eigenthümlicher Mischmasch von Hochdeutsch und Schwäbisch, der oft herzlich komisch anzuhören ist.
Sollte es nun auf anderen deutschen Stammesgebieten ähnlich sein? Was ich in dieser Beziehung namentlich vom hohen Norden, z. B. Hamburg, Holstein u. s. w. erfahren habe, lautete das eine Mal so, das andere Mal anders. Die einen Berichterstatter konstatirten es ebenfalls als unleugbare Thatsache, daß unter den Gebildeten das plattdeutsche Reden mehr und mehr abhanden komme; andere versicherten das Gegentheil. Jedenfalls scheint dort die Gefahr, daß die Stammesmundart von der Spracheinheit zurückgedrängt, ja gar verschlungen werde, noch nicht so nahe gerückt, wie bei uns im Süden. Aber vorhanden ist diese Gefahr auch dort. Und es muß ja so sein. Nicht blos die deutsche Reichseinheit, sondern der unendlich gesteigerte, auf allen Lebensgebieten sich erweiternde Verkehr der